Kölnisch Wasser vermischt mit Schweißtun & lassen

Briefe an den Vater

Hallo Vater! Wie geht es dir? Wie geht es dir mit meinen Geschwistern? Hast du dich an sie gewöhnen können? Oder suchst du wieder nach deiner Einsamkeit, indem du dich in deinen Obstgarten zurückziehst? Du hast dir wahrscheinlich deine Pensionszeit sehr leicht vorgestellt. Du hast dir gedacht, ich fange dort an, wo ich alles stehen lassen habe. Die ersten Jahre deiner Pensionierung waren sowohl für dich als auch für mich, meine Mutter, aber auch für deine anderen Kinder sehr schwer. Du warst mit der Erziehung deiner Kinder nicht zufrieden. Die ganze Schuld hast du versucht, auf meine Mutter zu schieben. Deine Aussagen gingen immer in folgende Richtung: „Ich habe mein ganzes Leben für euch aufgeopfert“ usw.“ Uns hast alle wie kleine Kinder behandelt. Dabei war dein jüngster Sohn von acht Kindern schon 20 Jahre alt. Du hattest schon Enkelkinder. Die Vorwürfe meiner Mutter waren aber auch nicht anders: „Ich habe die acht Kinder allein groß gezogen!“Vater, als ich zu dir nach Wien kam, war ich 16 Jahre alt. Dein Leben habe ich kennen lernen können. Es war für mich auch kein Honiglecken, bei dir zu sein. Ich kann dir jetzt mit ruhigem Gewissen sagen: Du wolltest aus mir einen zweiten Hidir Emir machen. Ohne mein Alter zu berücksichtigen hast du mich in deiner Firma arbeiten lassen wie ein Erwachsener. Dein Lebensgenosse wurde ich, ohne gefragt zu werden. Wolltest mich einer harten Lebensprüfung unterziehen. Mich aufs selbe harte Leben vorbereiten. Deine Vorstellung für mein zukünftiges Leben war, ich solle das Geld sparen, das ich durch die harte Arbeit wie du auf den Baustellen verdiente. Mit diesem sollte ich ein eigenes Geschäft aufmachen. Du warst für mich nicht da, wenn es um meine Seele ging. Du wolltest mein Leben organisieren, ohne mich zu kennen. Deine Aufgabe war, immer das gleiche Frühstück vorzubereiten, an dem ich auch teilnehmen durfte. Wenn wir auch manchmal neben der Asphaltfabrik mit den anderen türkischen Arbeitern auf Pflastersteinen grillten, war das nicht immer das beste Fleisch, das du gekauft hast. Du wolltest für die ganze Familie in der Türkei sparen.

In die Discos hast du mich auch nicht lassen. Ein paar Mal bin ich in die Disco neben dem Billa gegangen, ohne dich zu fragen. Dort habe ich 1983 sogar den Prof. Bilgeri live erlebt. Wenn du und der andere türkische Arbeiter nicht in eurem Zimmer wart, habe ich mit meinen 17 Jahren versucht, genauso wie die anderen jungen Menschen zu tanzen. Ein Schritt nach links, ein Schritt nach rechts usw. In der Disco habe ich nur zugeschaut. Meinen ersten Tanz mit einer Frau habe ich im Tanzsalon Oberbayern im Prater gemacht. Dein Arbeitskollege Tahir hat mich einmal mitgenommen. Er hat dir das nicht gesagt. Vielleicht hättest du es auch erlaubt. Die Wochenenden wolltest du oft lieber mit der Fotografie als mit mir verbringen. Ich weiß, du hast damit Geld verdient. Du warst bei den Romahochzeiten, in den Bahnhöfen und in den Parks, an den Treffpunkten der Migranten.

Wir gingen also in den Tanzsalon hinein. Alle Türken sind so gut rasiert gewesen, dass sogar die Fliegen ausrutschen würden, wenn sie versuchten, auf diesen glatt rasierten Stellen zu landen. Alle sehr gut angezogen mit Krawatte und weißen Hemden. Man hatte nicht das Gefühl, dass das Gastarbeiter waren. Wie auf den Fotos, die du nach Hause geschickt hast. Das waren die türkischen Mannegere. Viele von denen waren Leute aus deiner Firma. Es spielte eine Tanzkapelle. Die waren alle gleich angezogen. Sie spielten Tanzstücke aus dem deutschsprachigen Raum. Mit dem Tahir setze ich mich an einen großen Tisch, wo alle sich kennen.

Alle schauen herum. Sie halten Ausschau nach einer Frau, die noch nicht vergeben ist. Eine, die auch für einen Gastarbeiter Blicke übrig hat. Sie alle wissen, welche Frau mit welchem Türken zusammen ist. Da herrscht aber auch eine Solidarität. Eine Frau, die mit einem Türken zusammen ist, wird nicht angebaggert. Die lässt man in Ruhe. Die ersten Biere werden getrunken. Plötzlich wird auch der Vogerltanz gespielt. Meine Leute, die nur Scheibtruhen und Kompressoren bedienen können, verwandeln sich zu wahren Tänzern. Sie tanzen Walzer. Sie gehen zu den verschieden Tischen, fordern die Damen höflichst zu einem Tanz au. Sie schwitzen. Das Kölnischwasser vermischt sich mit Schweiß. Sie sind gut gelaunt. Während des Abends kommt die blonde Bedienerin von den Baracken. Sie fordert mich zum Tanzen auf. Ich bin 17 Jahre alt. Ich schäme mich. Die Arbeitskollegen schimpfen mit mir, warum ich denn nicht aufstehe und mit ihr tanzen gehe. Es gehört sich nicht, den Tanz zu verweigern, wenn eine Frau zu dir kommt. Ich gehe mit ihr auf die Tanzfläche. Die Schritte kenne ich nicht. Ich habe das Gefühl, als würde sie mich auf der Tanzfläche hin und her schleppen. Ich schwitze kalt, das Stück nimmt kein Ende. Ich schäme mich. Nach diesem Tanz verlasse ich fluchtartig den Tanzsalon Oberbayern.