Island in der Krise: eine zornige Gesellschaft und ein Freund und Feind verblüffendes Wahlresultat
«Eines unserer Hauptthemen war: Adoptieren Sie einen Obdachlosen! Die Menschen haben gesagt, das sei ein furchtbarer und unmenschlicher Witz aber das war es nicht. Warum kümmert sich niemand um die Obdachlosen? Das ist ein Fehler des Systems. Nachdem wir das erklärt haben, haben die Menschen gemerkt, dass wir Ironie und Witz benutzt haben, um auf Probleme aufmerksam zu machen. Und das war unser Hauptziel.»Der isländische Musiker Einar Orn Bendiktsson, Ex-Punk, weist mit diesen Worten auf ein isländisches Phänomen hin: Wer auf seiner Insel die Schnauze voll von der Politik hat (umso mehr, als sie sich in der Krise als Sekretariat des großen Geldes herausgestellt hat), der oder die wählt nicht den rechten Populisten, sondern den Gründer einer linken «Antipartei» zum Hauptstadtbürgermeister. In Reykjavik hat seit einigen Wochen die «Beste Partei» das Sagen, deren Spitzenkandidat Jón Gnarr Kristensson nun tatsächlich Erster Mann im Stadtparlament der isländischen Hauptstadt ist. Und der fast ausschließlich Ironie und Witz als Stilmittel des Wahlkampfes verwendet hatte. Wers nicht glaubt, soll die Website der Antipartei http://bestiflokkurinn.is öffnen. Man muss nicht Isländisch können, um darin den Schmäh zu spüren: eine Synthese aus Qualtinger und Yes-Men.
In der Regel kamen sie aus der Punk-Bewegung der 80er Jahre: Im November des Vorjahres gründeten eine Handvoll KünstlerInnen und MusikerInnen, die mit den isländischen Parteien unzufrieden waren, kurzerhand ihre eigene. Sechs Monate später erhielt die «Beste Partei» bei den Wahlen in Reykjavik die meisten Stimmen, fast 35 Prozent. Der Trend weg von den traditionellen Parteien ist ein gesamtinsularer. Ähnliche Listen zogen nämlich auch in die Gemeinderäte der nächstgrößten isländischen Städte, in denen unlängst gewählt wurde.
Inzwischen wurde der neue Bürgermeister der Hauptstadt Reykjavik angelobt: Jón Gnarr ist stadtbekannter Schauspieler, Komiker und Provokateur. In seinen Teenager-Jahren galt er als schwer erziehbar. Ein für gelernte ÖsterreicherInnen erstaunlicher, angenehmer Zug der isländischen Gesellschaft: Man gibt Unbekannten erst einmal eine Chance; NörglerInnen scheint es wenig zu geben auf dieser Insel, wohl auch deswegen, weil es die meisten davon ins NörglerInnen-Reservat Wien verschlagen hat.
Am Anfang war Punk: ein Anarchist als Bürgermeister
«Die politische Szene hier ist in völlige Lähmung verfallen, das ganze System war so uninteressant und langweilig, dass ich dachte, ein bisschen Comedy würde bestimmt nicht schaden», sagte der neue Bürgermeister in einem Interview. «Ich selber hatte mich nie für Politik interessiert, war auch nie in einer Partei, ich würde mich eigentlich als philosophischen Anarchisten bezeichnen. Aber nach der Finanzkrise, nach dem totalen wirtschaftlichen Zusammenbruch hier in Island, habe ich angefangen, viel darüber zu lesen, ich wollte einfach verstehen, was da schief gelaufen ist. Besonders, was diese Bank Icesave angeht und ich habe es bis heute nicht verstanden, was das eigentlich sein soll und wie das funktioniert. Aber auf einmal war es meine persönliche Verantwortung als Bürger, so war das in den Medien zu hören, deren Schulden zurückzuzahlen und auch die moralische Verantwortung zu übernehmen, und dabei hatte ich doch gar nichts damit zu tun. Also fing es an, mich auch emotional zu berühren, und ich wollte mit einer neuen politischen Option antreten.»
Jón Gnarr hat die Schule abgebrochen, hat als Pfleger in einer psychiatrischen Klinik gearbeitet, war zwei Jahre lang Taxifahrer in Reykjavik, später Gärtner, Bauarbeiter. Vor 15 Jahren begann er seine Karriere als Comedian. Ein Postpunk an der Spitze einer Hauptstadt, wo gibts das sonst außer im crazy Island? «Damals, als ich Punk war, war Island noch sehr isoliert vom Rest der Welt, viel mehr als heute», meint Gnarr. «Es gab nur das Staatsradio, das hat Punk genauso ignoriert wie die Zeitungen. Tatsächlich war die einzige Zeitschrift, aus der man von Punk erfahren konnte, das BRAVO und das war auf Deutsch. Ich habe es nicht lesen können, also musste ich mir aus den Bildern erschließen, was Punk eigentlich ist. So bin ich auch auf Nina Hagen gestoßen, obwohl ich auch deren Texte nicht verstanden habe. Aber es war Punk, und das war unser großer Einfluss.»
Mehr als jeder Dritte wählte ein surrealistisches Projekt
Die «Beste Partei» ist ein surrealistisches Projekt, und ihr grandioser Wahlsieg bedeutet, dass die HauptstädterInnen die Sprache des Surrealismus verstanden hat. Jon Gnarr: «Wir haben also surrealistische Slogans erfunden, damit die Leute auf uns aufmerksam werden. Es gab da zum Beispiel eine große Versammlung, auf der alle Parteien sich der Öffentlichkeit vorstellen durften mit ihrem Programm. In meiner Vorstellungsrede habe ich dann einfach meine Kandidatur zurückgezogen und die ganze Partei aufgelöst. Ich habe gesagt, dass mir das alles zu viel wird, und ich deswegen aufhöre. Und dann, ein paar Minuten später, habe ich gesagt, da bin ich wieder, wie der Vogel Felix bin ich aus der Asche wieder auferstanden, ich mache weiter, ich habe da auch ganz absichtlich Felix und nicht Phoenix gesagt. Und am nächsten Tag waren die Schlagzeilen in allen Medien voll nur mit der Geschichte um die Beste Partei, die inszenierte Auflösung, und ob ich wirklich so dumm wäre, Felix statt Phoenix zu sagen. Aber die Leute haben sich das Ganze gemerkt. Auf einmal gab es öffentliche Diskussionen über uns, und alle wollten Interviews mit mir haben.»
Surrealistischer Wahlkampf: «Wir haben keinen Zoo in der Stadt, so wie ihn alle anderen Städte der Welt haben», kritisiert der neue Bürgermeister. «Es gibt nur einen Streichelzoo mit Schafen, und ich meine: Hallo? Wer will in Island Schafe im Zoo sehen?! Ich wollte also was Interessantes für unseren Zoo, und der Eisbär bietet sich an. Wegen des Klimawandels kommen immer öfters Polarbären nach Island, letztes Jahr waren es drei Stück, und die wurden alle einfach erschossen. Und das ist doch total barbarisch und im Übrigen ganz schlechte Presse für unser Land, und wir bräuchten doch unbedingt gute Schlagzeilen. Also habe ich vorgeschlagen, den nächsten Polarbären, der herkommt, zu fangen und in den Streichelzoo zu bringen, und wenn es ein Weibchen ist, könnten wir es BJÖRK nennen.»
Nach seiner Angelobung als neues Stadtoberhaupt wurde Jon Gnarr gefragt, ob man sein Wahlprojekt exportieren könne. «Ja, absolut», antwortete der Kabarettist, der übrigens 2009 zu Islands bestem Schauspieler gewählt worden war. «Es könnte die Beste Partei weltweit geben, es könnte in jedem Land die erfolgreichste Partei werden, aber die griechische beste Partei sähe natürlich ganz anders aus als die isländische, weil was gut ist für Island, ist nicht unbedingt gut für Griechenland. Die Leute haben schon aus den Niederlanden nachgefragt, weil sie da auch eine Beste Partei gründen wollen, es könnte also eine universelle Bewegung werden.» Wenn in dieser Aussage eine Spur von Missionaritis durchscheint, muss man Vorsicht walten lassen: Die isländischen Erfahrungen sind nicht ohne Weiteres auf das Festland zu übertragen.
Dass es z. B. bei den Kommunalwahlen 2002 in Rotterdam einen ebenso verblüffenden Sieger gab, der jedoch politisch geradezu ein Antipode Gnarrs war, hat Einiges mit der völlig anderen sozialen Realität der niederländischen 600.000-Einwohner-Stadt zu tun. In Rotterdam leben Menschen aus 170 Nationen, und seit kurzem stellen die Zuwanderer, ihre Kinder und Enkeln mit 51 Prozent die Mehrheit der Bevölkerung. In Reykjavik ist Folgendes unvorstellbar: Tausende Migrantenkids im öffentlichen Raum, ohne jede Chancen in einer auf Konkurrenz getrimmten Gesellschaft, den Staat verachtend, der ihr Scheitern mittels Sozialhilfe alimentiert, die Sozialhilfe verachtend, weil diese sie daran erinnert, dass sie nichts sind Den «kleinen Mann» in Islands Hauptstadt verunsichert diese Verachtung nicht, weil er sie nicht kennt, den «kleinen Mann» in Rotterdam verunsichert sie. Eine Teilerklärung für den 37-Prozent-Erfolg des Dandys, Berufsprovokateurs und Muslimhassers Pim Fortuyn.
Wien ist eher mit Rotterdam als mit Reykjavik zu vergleichen. Soziologisch. Aber an surrealistischem Personal mangelt es in Wien nicht. Bisher fehlte ihm der Mut und ein beispielgebendes Vorbild. Surrealisten an den politischen Schalthebeln das gabs seit der bayrischen Räterepublik nicht. Wie sich die Kommunalpolitik durch die Beste Partei konkret verändert, wird der Augustin verfolgen. Demnächst also mehr zu den Inhalten der Politik einer «Spaßpartei», die keine Inhalte biete, wie die letzten Anhänger der Traditionsparteien ätzten.
Benützte Quellen:
http://highnorth.wordpress.com/category/lander/island/
http://bestiflokkurinn.is/
http://islaendisch.blog.de/
http://www.dw-world.de
http://www.br-online.de/bayern2/feuilleton