Kolportage ist kein Verbrechen!tun & lassen

Matthias Jordan, Emőke Gondos, Alex Bumbar (oben von l. nach r.), Henrie Dennis und Sonja Hopfgartner (unten von l. nach r.) arbeiten im Augustin-Vertrieb. Sie bieten Verkäufer:innen Sozialarbeit und Rechtshilfe. Matthias’ Hund Fred ist immer hellwach dabei, sofern er nicht gerade ein Nickerchen macht (Foto: © Nina Strasser)

Willkürliche Verwaltungsstrafen, unrechtmäßige Geldabnahmen, Abschiebungen, illegale Verhaftungen, rassistische Übergriffe von Passant:innen. Welchen Schikanen Augustin-Verkäufer:innen tagtäglich auf der Straße ausgesetzt sind, schockiert. Unterstützung bekommen sie von der Sozialarbeit und Rechtsberatung des Augustin. Auch Sie können etwas tun.

Wenn der Vertrieb offen hat, kommen die Verkäufer:innen mit ihren Problemen oder einfach nur zum Abhängen», erzählt Matthias Jordan. Er arbeitet im Vertrieb des Augustin, jener Ort, an dem die Verkäufer:innen ihre Zeitungen an vier Tagen der Woche abholen können und ihre Probleme mitbringen. Neben der klassischen Sozialarbeit bietet der Augustin eine Rechtsberatung, die in Zukunft ausgebaut werden soll. Denn der Bedarf wird immer größer.

Kontrolliert, bestraft, beschimpft

Immer wieder sehen sich Augustin-Verkäufer:innen mit Strafen für «aufdringliches», «aggressives», «organisiertes» oder «gewerbsmäßiges» Betteln konfrontiert. Dabei ist der Verkauf des Augustin gesetzlich geregelte Kolportage. «Es wird dann behauptet, dass sie keine Zeitungen mithätten, dass der Ausweis nicht sichtbar getragen wurde oder dass sie Passant:innen belästigt hätten», so Jordan. Die Strafen sind mit bis zu 700 Euro empfindlich hoch. «Das Problem ist bis heute, dass es keine genauen Definitionen gibt», erklärt Annika­ ­Rauchberger, ehemalige Aktivistin der BettelLobby Wien. Dabei ist auch Betteln erlaubt; das wurde vom Verfassungsgericht 2012 festgestellt. «Betteln im öffentlichen Raum muss stattfinden, damit Menschen überhaupt auf ihre Notlage aufmerksam machen können», sagt sie. Was «aufdringlich», «aggressiv», «organisiert» oder «gewerbsmäßig» ist, würden – mangels Definition – Polizist:innen selbst entscheiden. Wenn Menschen etwa ihre Anreise organisieren, ist das aus Sicht der Behörde «organisiertes» Betteln. Wenn Mutter und Tochter zum Schutz vor Übergriffen Blickkontakt halten, ebenso. Selbst sich auf den Boden zu setzen oder «Augustin, Augustin!» zu rufen, würde laut Jordan für eine Strafe reichen.
Oftmals werden Betroffene zusätzlich nach § 78 der Straßenverkehrsordnung (Behinderung des Fußgänger:innenverkehrs) belangt. Eine umgefallene Bierdose, unangenehmer Geruch oder Wippen genügen da schon als Begründung, berichtet Rauchberger­ über ihre Erfahrung mit bettelnden Menschen. «Den Bettler oder die Bettlerin möchte ich einmal sehen, der bzw. die mit seinem oder ihrem Oberkörper die ganze Mariahilferstraße zuwippt», zeigt sie sich verständnislos. «Wie man’s macht, macht man’s falsch.» Wer dann nicht bezahlen kann, muss eine Ersatzfreiheitsstrafe im Gefängnis absitzen. Für Menschen, die ihr Geld im öffentlichen Raum verdienen, eine doppelte Strafe für kein Verbrechen.
Berichte über häufige Ausweiskontrollen durch die Polizei, von denen Felix Jeff (Seite 9) und Milen Dimitrov (Seite 8) erzählen, führt Matthias Jordan auf Racial Profiling – die unrechtmäßige Behandlung von Personen aufgrund von äußeren Merkmalen seitens der Polizei – zurück. Denn vor allem Verkäufer:innen aus Westafrika und Osteuropa sind davon betroffen. «Die Polizei hat grundsätzlich das Recht, Personen zu kontrollieren», erklärt Annika Rauchberger. Den Meldezettel herzeigen oder die Beamt:innen zu seinem Wohnort führen muss man aber nicht, stellt Matthias Jordan klar. Manche tun dies dennoch aus Angst vor der Exekutive.
Auch Passant:innen können Augustin-Verkäufer:innen das Leben schwer machen, wovon Felix Jeff, Milen Dimitrov und ­Miroslav Yordanov erzählen. «Verkäufer:innen werden von Passant:innen rassistisch beschimpft, degradiert, angespuckt», berichtet ­Matthias ­Jordan. «Die meisten Verkäufer:innen haben eine dicke Haut. Sie versuchen es zu ignorieren».

Verhaftet, gedemütigt, abgeschoben

Innereuropäische Abschiebungen wie jene von Milen Dimitrov oder Mihaela Onea (Seite 10) häufen sich aus Sicht von Annika Rauchberger seit der Zeit Herbert Kickls (FPÖ) als Innenminister. Matthias Jordan bestätigt: Abschiebungen von Augustin-Verkäufer:innen nach Rumänien und Bulgarien nahmen in den letzten Jahren kontinuierlich zu. Manche Verkäufer:innen werden mehrmals in einem Jahr abgeschoben. Auskunft zu Statistiken des Innenministeriums, auch über etwaige Doppelzählungen, geben aber weder das Ministerium noch das Bundesamt für Fremdenwesen und Asyl. «Die Leute können danach aber sofort wieder nach Österreich einreisen, sofern kein Aufenthaltsverbot vorliegt. So ergeben diese Abschiebungen keinen Sinn. Das ist eine Bekämpfung armutsbetroffener Menschen», ist Jordan überzeugt.Damit EU-Bürger:innen zum Aufenthalt in Österreich für mehr als drei Monate berechtigt sind, müssen sie gewisse Voraussetzungen erfüllen, etwa einer Lohnarbeit oder selbstständiger Tätigkeit nachgehen, andernfalls für sich und ihre Familienangehörigen über ausreichende Existenzmittel und einen umfassenden Krankenversicherungsschutz verfügen. Sind alle Voraussetzungen erfüllt, muss binnen vier Monaten ab nachgewiesenem Aufenthalt eine Anmeldebescheinigung beantragt werden. Ansonsten drohen Strafen von 50 bis 250 Euro und sogar die Abschiebung. Rauchberger berichtet über einen besonders tragischen Fall einer über 60-jährigen Rumänin. Weil sie sich ohne Anmeldebescheinigung in Österreich aufgehalten hat, wurde sie des Landes verwiesen, das Bundesverwaltungsamt behielt ihren Ausweis bis zur Ausreise ein. Aus Angst vor der Behörde holte sie den Ausweis nicht ab und reiste mit einer Kopie aus. Dafür wurde sie mit einem 10-jährigen Einreiseverbot nach Österreich belegt, das der gesamten Familie inklusive pflegebedürftigen Sohn die Existenzgrundlage entzog. Verhaftet würden, so die Aktivistin, die Betroffenen oftmals auch in Notschlafstellen, die eigentlich sichere Orte sein sollten.
«Es passiert auch oft, dass Augustin-Verkäufer:innen illegal verhaftet werden», weist Matthias Jordan auf ein weiteres Problem hin. «Wir hatten Leute, die zwei Wochen in Abschiebehaft waren und dann entlassen wurden, weil sich herausstellte, dass die Verhaftung illegal war. Dann fordern sie meistens keine Aufklärung, weil sie einfach froh sind, dass es vorbei ist. Sie wollen nicht mehr darüber reden.» Ein Verkäufer habe ihm vor Kurzem gesagt, er kenne jetzt seine Rechte, und das werde ihm nie wieder passieren. Deswegen, so Jordan, sei die Rechtsberatung und die Begleitung der Verkäufer:innen so wichtig. Neben den fünf Sozialarbeiter:innen hilft auch Wilhelm ­Jenik, eine Privatperson, die sich juristisch auskennt, Verkäufer:innen bei rechtlichen Belangen. Einmal in der Woche steht er für Beratungstermine in der Augustin-Zentrale zur Verfügung, schreibt Beschwerden und informiert über Behördenwege.

Annika Rauchberger war Aktivistin der BettelLobby Wien, die sich 2022 wegen mangelnder Zeitressourcen auflöste. Sie bedauert: «Niemand hat unsere Arbeit übernommen. Betteln und Armut sind leider keine prestigeträchtigen Themen» (Foto: © Nina Strasser)

«Wir haben auch Fälle von Frauen gehabt, die auf Polizei-Inspektionen mitgenommen wurden, wo sie sich komplett ausziehen mussten, weil sie eine Waffe haben könnten. Darunter war auch eine 85-jährige Bulgarin. Für sie war das so eine Demütigung, dass sie das Land verlassen hat», so Rauchberger. Diese ebenso für den Staat sehr kostspieligen Maßnahmen würden nicht zur Aufrechterhaltung der öffentlichen Sicherheit, sondern ausschließlich der Einschüchterung dienen, sind sich Jordan und Rauchberger einig.
In einer Stellungnahme der Pressestelle der Landespolizeidirektion Wien gegenüber dem Augustin zeigt man sich wenig problembewusst. «Die Wiener Polizei geht bei Amtshandlungen, insbesondere auch bei von Armut betroffenen Menschen verhältnismäßig und mit Augenmaß vor. Wenn es jedoch zu strafbaren Handlungen kommt bzw. diese auch aufgrund von Zeugenangaben bestätigt werden, wird gemäß der Gesetze eine Amtshandlung durchgeführt.» Dabei wird als Beispiel «aggressive Bettelei» angeführt.

Aufklärung und Solidarität

Wer eine Amtshandlung an Augustin-Verkäufer:innen beobachtet, bleibt am besten stehen und sagt zu der betroffenen Person: «Ich bleibe jetzt bei dir, ich bin deine Vertrauensperson.» Allein dadurch ändert sich das Klima fundamental, ist Annika Rauchberger überzeugt. Die Polizei darf Beobachter:innen nicht wegschicken, sie lediglich auffordern, einen Schritt zur Seite zu gehen, um die Amtshandlung nicht zu behindern. Es ist ganz wichtig, den Vorfall zu dokumentieren: Ort, Zeit, die Dienstnummer der Beamt:innen. Am besten sucht man nach Zeug:innen, Passant:innen, Mitarbeiter:innen der umliegenden Geschäfte. «Wird eine Strafe ausgestellt, auf keinen Fall sofort bezahlen!», warnt Rauchberger. Ist sie mangelhaft ausgestellt, kann sie beeinsprucht werden, dazu gibt es sogar Vorlagen im Internet. Ein Einspruch muss vor dem Verwaltungsgericht behandelt werden. Damit wird die Wirkung der Strafe oft über ein Jahr aufgeschoben. Daher sei es so wichtig, die Strafen nicht sofort zu bezahlen. Betroffene werden jedoch meist von der Polizei aufgefordert, sie sofort zu begleichen. Auch hier stellt die Aktivistin fest: «Das ist Kriminalisierung von Armut.» Die Betroffenen müssen nichts unterschreiben, was sie aufgrund von Sprachbarrieren nicht verstehen. Die Polizei darf nur Geld abnehmen, das bei von ihr direkt beobachtetem «aggressiven Betteln» eingenommen wurde, aber nicht das gesamte Geld, das eine Person mitführt. Für alle abgenommen Gegenstände muss eine Bestätigung ausgefertigt werden.
Der Augustin hilft bei der Aufklärung sowie beim Einspruch gegen Strafverfügungen und mit dem Solidaritätsfonds beim Begleichen von Strafen. Ein Fehlverhalten einzelner Verkäufer:innen, mit denen man bei Kenntnis natürlich das Gespräch sucht, kann Matthias Jordan nicht ausschließen, aber: «Es ist für uns ganz klar, an der Seite jener zu stehen, die durch alle sozialen Netze fallen. Solange es Straßenzeitungen braucht, ist unsere Haltung immer die schützende Hand über unseren Verkäufer:innen.»

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