Theater ist für alle da. Und auch Theaterkritik soll nicht nur einer Handvoll Feuilletonist_innen überlassen werden. Ruth Weismann (Text und Foto) hat den Verein Neue Wiener Theaterkritik besucht, der an einer Community des performativen Diskurses arbeitet.
Mit Jogginghose wolle er eigentlich nicht ins Theater gehen, sagt Christof Würcher. «Musst du eh nicht, zieh’ an, was du willst, aber zieh’ deine mentale Jogginghose an», ruft Obfrau Clara Gallistl. Gelächter in der Runde. Mentale Jogginghose? Nun, der Verein Neue Wiener Theaterkritik, der an diesem Dienstag Anfang April bei seinem alle zwei Monate stattfindenden offenen Stammtisch im Wiener Café Lazy Life zusammensitzt, geht laut Eigenbeschreibung auf der Homepage selbstbewusst mit Jogginghose ins Theater. Egal ob Burgtheater oder Off-Szenen-Produktion. Im übertragenen Sinn heißt das: «Nimm deine Komfortzone mit ins Theater», erklärt Nick Zatko, der in der Chefredaktion des vereinseigenen Blogs ist.
Einmischen erwünscht.
Hinter der Aussage steht eine Frage, die weiter ist, als es die bequemste Jogginghose sein kann: Warum soll sich das Publikum dem Theater «anpassen»? Warum bestehen Zutrittsschwellen, die nicht nur Geld bedeuten, sondern auch gefühlte (Un-)Bildung oder Klassenzugehörigkeit? Und wer darf wie darüber sprechen? Genau da setzt der Theater- und Publikumsverein Neue Wiener Theaterkritik an: «Wir wollen zeigen: Theater ist für alle da», erläutert Mitbegründerin Sarah Hellwagner die Idee. «Theater wird immer in eine Nische gerückt, wir möchten es da rausholen», sagt sie weiter. «Nur weil du nicht Theaterwissenschaftler_in oder Germanist_in bist, heißt das nicht, dass du nicht ins Theater gehen und auch Theater kritisieren kannst. Mit Kritik meinen wir: Was verstehe ich, was kommt bei mir an, wie interpretiere ich das? Normale Fragen stellen wie: Was haben sie mit dieser Szene gemeint? Muss ich das verstehen? Gefällt es mir? Und auch: Was fehlt? Was ärgert uns?»
Neue Wiener Theaterkritik soll als «safe space» fungieren, in der sich niemand inkompetent vorkommt. Denn warum soll die Debatte nur dem klassischen Feuilleton überlassen werden? «Wir spielen das auch zurück an die Häuser, wenn uns etwas auffällt, gefällt, oder auch ärgert», sagt Clara, die auf YouTube eine Interviewreihe betreibt, in der sie mit Theater-Leiterinnen spricht. Deren Interesse, was der Verein zu Stücken und theaterrelevanten Themen sagt, ist groß, so die Erfahrung.
Publikums-Community.
Das Projekt hat sich mehr oder weniger aus der von Clara Gallistl gegründeten Volksbühne Wien entwickelt, die ebenfalls einen Community-Ansatz verfolgt und eigene Produktionen auf die Bühne bringt. Mitglieder hat Neue Wiener Theaterkritik derzeit rund zehn, die mit je 35 Euro pro Jahr beitragen. Aber niemand muss ordentliches Mitglied sein, um dennoch mitzumachen und mitzureden, ob am Stammtisch oder auf den Social-Media-Kanälen. Staatliche Förderungen gibt es (noch) nicht, was u. a. damit zu tun hat, dass die Stellen bislang nicht so recht wussten, was der Verein genau macht. «Die konnten uns nicht einordnen», meint Clara.
Der Kern besteht im Anschauen von Theaterstücken, ob als gemeinsamer Ausflug oder alleine, und in der Auseinandersetzung damit. Sprich: Kritiken für den Blog schreiben oder einfach nur mitdiskutieren. Bei der Redaktionssitzung, die kurz vorm Stammtisch stattfindet, wird besprochen, wer welche Stücke anschauen mag, es werden Pressekarten organisiert bzw. gibt es für Mitglieder ermäßigten Eintritt. Nach Aufführungen wird gerne mal mit Schauspieler_innen zusammengesessen und das Stück besprochen. Diskussion und Auseinandersetzung ist – neben organisatorischen Aufgaben, dem Anleiern von Kooperationen und anderem – eben das Herz des Projekts, abseits von reinen Profi-Kritiker_innen-Gesprächen und bildungsbürgerlichen Sekt-Kränzchen. Der demokratische Anspruch des Theaters, so Clara, bestehe darin, über Gesellschaft zu sprechen. Man fängt beim Stück an, das man gesehen hat, und kommt darüber zu breiteren Themen. Und stellt auch ganz normale Fragen:
Wie divers ist Theater?
Dass auch die Neue Wiener Theaterkritik derzeit hauptsächlich aus weißen Menschen besteht, ist eine Sache, die vielleicht auch damit zusammenhängt, wen viele Theaterproduktionen überhaupt (nicht) repräsentieren. Dem Verein ist das bewusst, er versucht, das für sich zu ändern, und ist dabei, sich neu aufzustellen, wie Nick erklärt: «Es geht darum, als Publikumsverein nun viel mehr am Community-Aufbau zu arbeiten. Zum Beispiel haben wir jetzt für Mai eine Kooperation mit den Festwochen, mit dem Titel Donaustadt Calling, wo wir eine Community in der Donaustadt aufbauen möchten, abseits der üblichen Theaterszene. Wir organisieren Veranstaltungen und gemeinsame Stammtische, wo Leute ganz ungezwungen kommen können, über das Programm sprechen und mit uns Generalproben besuchen.» Man möchte dafür in Zukunft auch etwa mit der Gebietsbetreuung und anderen Organisationen oder Vereinen zusammenarbeiten.
Diversität in der Kleidung ist beim Theaterbesuch jedenfalls auch gut. Von Jogginghose bis Abendkleid ist alles erlaubt!
Texte, Infos zum offenen Stammtisch und weiteres auf:
www.neuewiener.at