Die Wallensteinstraße hat (noch) eine «Begegnungsqualität»
Die Regisseurin des Dokumentarfilms «Global Shopping Village» Ulli Gladik (Text und Fotos) besuchte für den Augustin die Brigittenauer Wallensteinstraße, wo trotz der nahen Millennium City viele kleine Händler_innen ihr Glück versuchen.Im Einkaufsviertel rund um die Wallensteinstraße im 20. Bezirk findet mensch fast alles, was das Herz begehrt, und noch dazu zu besonders günstigen Preisen. Auch der Schneider Sihmehmet Delibalta, den im Grätzel alle unter dem Namen Attila kennen, hat seine Preise der Umgebung angepasst, wie er lachend erzählt. Die winzige Änderungsschneiderei hat sein Vater bereits 1991 gegründet, Herr Attila hat sie dann im Jahr 2000 übernommen. Er ist zufrieden, obwohl sich die Straße in den letzten 15 Jahren stark verändert hat. Statt Niedermeyer, Kleiderbauer oder Spielwaren Heinz heißen die Läden heute Mac Leskovac, Enes Textil, Pakistani Mode. Besonders auffällig ist die hohe Anzahl an Handyläden. Doch hat hier «jeder so sein eigenes Spezialgebiet», erklärt der Betreiber von Johnnys Shop vis-à-vis von Attilas Schneiderei auf die Frage, wie sich das Geschäft in Anbetracht der vielen Konkurrent_innen gestalten würde: Er selbst setzt auf Service und Neuware. Sechs Jahre konnte er sich mit dieser Strategie halten. Eine beträchtliche Zeit, denn es ist ein Kommen und Gehen auf der Wallensteinstraße. Der Betreiber des Ein-Euro-Shops hat erst im letzten Jahr sein Geschäft eröffnet. Von Haushalts- über Spielwaren bis hin zu Textilien gibt es bei ihm alles, und «zwar Markenprodukte, und nicht Made in China», wie er freundlich betont. Die Umsätze seien aber bei Kollegen in anderen Bezirken besser. Die Mieten sind trotz Leerständen hoch und die Anschaffungskosten für die Registrierkassen eine zusätzliche Hürde. «Die meisten versuchen es so lange, wie es nur irgendwie geht, dann sperren sie wieder zu», erzählt Schneider Attila, der hier schon viele ein- und ausziehen gesehen hat. «Ein Österreicher würde sich das wohl nicht antun», mutmaßt er über die Tatsache, dass es kaum noch Geschäftsbetreiber_innen mit österreichischen Wurzeln hier gibt. Das Lederwarengeschäft, das schon seit Kriegsende hier ansässig war, schließt dieser Tage seine Pforten. Auch für Schneider Attila war es früher einfacher: «Zwei Tage die Woche habe ich nur für Kunden gearbeitet, die von dem Herrenmodengeschäft SIR zu mir rübergekommen sind und sich die Hosen ändern haben lassen, 2003 oder 2004 hat SIR dann zugesperrt.» Heute ist im SIR Herrenmoden ein Bordell, der Buchladen wurde zum Sportwettencafé und bei Don Gil ist ein Kindergarten eingezogen. Handelsketten wie Humanic, Spielwaren Heinz oder Don Gil verlegten ihre Filialen ins Shoppingcenter Millennium City, das 1999 nur zwei Kilometer entfernt vom eigentlichen Zentrum des 20. Bezirks seine Pforten öffnete.
Rathaus duldete Verstöße
Als bekannt wurde, dass am Handelskai im 20. Bezirk ein 30.000 m2 großes Shoppingcenter entstehen soll, protestierte die Wiener Wirtschaftskammer. Denn durch das Überangebot an Verkaufsfläche würde der Einzelhandel im 20. Bezirk noch stärker in Bedrängnis geraten. Außerdem war im Stadtentwicklungsplan 1994 ein derartiges Gebäude für diese Gegend überhaupt nicht vorgesehen. «Es gibt kaum einen Bau, bei dem so offenkundig gegen bestehende Widmungen und Planungen verstoßen wurde, noch dazu mit Duldung des Rathauses», resümiert Reinhard Seiß in seinem Bestseller «Wer baut Wien». Auf die Proteste der Wiener Wirtschaftskammer reagierte der Errichter Georg Stumpf junior mit der Garantie, nicht mehr als 10.000 m2 Verkaufsfläche zu bauen. Nichtsdestotrotz entstanden laut Zeitungsberichten schließlich 30.000 m2 und ein Büroturm mit unerlaubten 202 Metern Höhe. Durch die angrenzende U6-Station Handelskai erhielt die Millennium City eine unglaubliche Aufwertung, ohne dass die Stadt Wien, wie es in anderen Städten durchaus üblich ist, einen Beitrag zu den Stationserrichtungskosten forderte.
Während im 20. Bezirk die Kleingewerbetreibenden um ihr Überleben kämpfen, bedeutete für Errichter Georg Stumpf die Millennium City den Eintritt in die Welt der Multimillionäre. 2003 beschloss eine Mehrheit im Wiener Gemeinderat die Anpassung des Flächenwidmungs- und Bebauungsplans an den gebauten Bestand. Dass hier Bausünden im Nachhinein legalisiert wurden, ließ lediglich die Grünen protestieren. Auf eine Verhängung von Strafen, um zu demonstrieren, dass man nicht bauen darf, wie man will, wurde ebenfalls verzichtet. Nachdem die Bausünden legalisiert waren, verkaufte der Jungunternehmer Stumpf den Komplex um 360 Millionen Euro an die Hamburger Fondsgesellschaft MPC Capital AG und machte damit einen Gewinn von 215 Millionen Euro. In der Wiener Grinzinger Straße kann heute Stumpfs Hochsicherheits-Luxusvilla im Stile eines italienischen Palazzos bewundert werden, laut «Österreich» mit Golfplatz, Fitnessstudio, Tiefgarage und eigenem Haubenkoch. Stumpf senior war übrigens Bauunternehmer, errichtete seinerzeit das ORF-Zentrum und das Stadthallenbad und erfreute sich über beste Kontakte in hohe Banker- und Politikerkreise.
Seit 2014 gehört die Millennium City einer Immobilienabteilung der amerikanischen Bank Morgan Stanley. Doch weil das Konzept Shoppingcenter auch bei uns in Europa immer mehr an Ansehen und Beliebtheit verliert, wird auch hier hart gekämpft, um sich die Gunst der Kund_innen auch für die Zukunft zu sichern. So wurde das Hauptgebäude der Millennium City kürzlich modernisiert, seine Shopflächen vergrößert und demnächst soll auch das Nebengebäude seinen 90er-Jahre-Chic verlieren. Der Bereich zwischen den Baukörpern, eine öffentliche Straße, soll nun ebenfalls überdacht werden.
Zeit für ein Plauscherl
Kehrt mensch von der Millennium City mit ihren «50.000 Quadratmetern mit über 100 Shops internationaler Top-Marken sowie zahlreichen Gastronomie- und Entertainmentangeboten» wieder in die Wallensteinstraße zurück, erscheint diese wie eine kleine Oase. Denn hier können nicht nur pakistanische Stoffe oder persische Mehlspeisen gekauft werden, es findet sich fast immer Zeit für ein Plauscherl, für reale Begegnungen zwischen Menschen also, die nicht zwangsläufig von Konsum oder Hektik dominiert sind. In vielen ehemaligen Wiener Straßen ist diese Begegnungsqualität leider längst verloren gegangen. Die Erdgeschossflächen sind unbenutzt, und begegnen tun sich hier vor allem fahrende und parkende Autos. Leer stehende Geschäfte werden oft sogar in Garagen umgewandelt. Eine Entwicklung, die das Konzept einer lebendigen und nutzungsdurchmischten Stadt völlig konterkariert. Es gibt unzählige Initiativen, die Leerstand für kulturelle, nichtkommerzielle und solidarökonomische Nahversorgung nutzen möchten. Die Leerstandspetition der IG Kultur hat ganz klare Vorschläge ausgearbeitet, wie die Politik den Zugang zu Leerstand erleichtern und so die Lebensqualität in der Stadt mit einfachen Mitteln verbessert werden könnte. Die rot-grüne Stadtregierung bastelt nun schon seit Jahren an der sogenannten Zwischennutzungsagentur. Ob es dann tatsächlich einfacher wird, Leerstände vielfältig und konsumfrei zu bespielen, wird sich herausstellen.
Mit einem mutigen Schritt überraschte übrigens die Salzburger Landesregierung. Trotz vehementer Attacken seitens Centerbetreiber_innen und «Kronen Zeitung» hat die grüne Landeshauptmannstellvertreterin und Raumordnungsverantwortliche Astrid Rössler dem ungebremsten Flächenwachstum bei Einkaufszentren eine klare Absage erteilt.
In Wien liegt das Planungsressort zwar auch seit fünf Jahren bei den Grünen, ein derartig eindeutiger Richtungswechsel wie in Salzburg ist aber nicht zu erwarten.