Kopfbahnhof für Krypto-Kidsvorstadt

Digitalisierung wird oft mit dem Anspruch auf permanente Verfügbarkeit und noch mehr Apps assoziiert. Am «Verstehbahnhof» im brandenburgischen Fürstenberg ist sie ein soziales Werkzeug, das Landflucht verhindern und neue Perspektiven vor Ort eröffnen soll.

TEXT & FOTOS: BARBARA EDER

Großstadtbahnhöfe sind transitorische Orte: Züge kommen an, Frachten werden verladen und Reisende transportiert. Eine Zwischenstation des Regionalexpresses, der von Berlin nach Stralsund fährt, bietet dagegen ein beschaulicheres Bild. Fürstenberg ist eine Stadt mit rund 6.000 Einwohner_innen inmitten der Mecklenburgischen Seenplatte, ihr Bahnhof wirkt beruhigt. Im Foyer stehen selbstgebaute Sitzgelegenheiten aus Lagerpaletten, das Glas an der Außenseite der Unterführung ist eingefärbt; Gehäkeltes umrankt einen der Steher unterhalb des Vordachs, und an der Fassade der früheren Wartehalle hängt ein rotes Transparent: «Jugend hackt. Lab Fürstenberg».

Weg von Berlin.

Eigentlich wollte er nie Bahnhofswärter werden, sagt Daniel Domscheit-Berg und lacht. Vor Ort hat er viele Weichen gestellt. Nach seinem Abschied von der Investigativplattform WikiLeaks kehrte er den gentrifizierten Zonen von Berlin-Mitte den Rücken zu, seit rund zehn Jahren lebt er gemeinsam mit Anke Domscheit-Berg in Fürstenberg an der Havel. Die Türen von Daniels Haus stehen vielen offen, und die Idee, aus dem alten Bahnhof einen Hackspace zu machen, kam nicht von ungefähr. Anfangs interessierten sich die Kinder, die den Neuankömmling oft besuchten, vor allem für das große Trampolin im Garten. Sie fragten, warum er viel zuhause sei und ob er Arbeit hätte? Daniel erklärte ihnen, dass man dank Internet von überall aus arbeiten könne und ihre Neugier war geweckt. Die ersten Lötworkshops fanden noch im Dachgeschoß der Domscheits statt, am gegenüber liegenden «Verstehbahnhof» zählen sie zum fixen Programm.
Lasercutter, 3-D-Drucker, Stickmaschine: Der Fürstenberger «Verstehbahnhof» ist mit allem ausgestattet, was das Maker-Herz begehrt. Das Gebäude, in dem er untergebracht ist, befindet sich in Privatbesitz und hat eine wechselvolle Geschichte. Vor der Wende beherbergte es den Dorfkrug, nach dem Mauerfall eine Automaten-Kneipe; die Mahn- und Gedenkstätte Ravensbrück ist zu Fuß nur 25 Minuten entfernt und erinnert an die Existenz des größten Frauen-Konzentrationslagers vor Ort. In der Bahnhofshalle hingegen schlug zwischenzeitlich ein Getränkeladen aus Berlin seine Zelte auf, auch als Veranstaltungsort für Ausstellungen und Konzerte wurde sie temporär genutzt. 2018 zogen die ehemaligen Betreiber_innen des Beisls aus, und Daniel Domscheit-Berg mietete die freie Fläche an. Über den 2017 gegründeten Verein havel:lab e.V. stellte er Förderanträge und begann wenig später mit den Renovierungsarbeiten.

Bedingungsloser Netzzugang.

Junge Leute mit Computern, die alles selber machen wollen – für einige Fürstenberger_innen gehörte dies nicht zum ortsüblichen Erscheinungsbild. Beim technischen Ausbau des Bahnhofs engagierten sich auch einige Geflüchtete, die Daniel im Zuge einer lokalen Willkommensinitiative kennengelernt hatte. Von Beginn an setzte er auf breite Beteiligung – und die Idee, den sozialen Zusammenhalt vor Ort zu stärken. Gefragt ist keine «Digitalisierung von oben», wie die Telekom sie gern betreibe; vielmehr gehe es um einen Ort, der allen Interessierten zur Verfügung stehe und von möglichst vielen genutzt wird. In ähnlicher Weise denkt Daniel über einen bedingungslosen Netzzugang für Mensch und Maschine; Ziel eines seiner weiteren Projekte ist es, die gesamte Region mit kostenfreiem Internet zu versorgen – damit auch all jene vor Ort arbeiten können, die ansonsten wegziehen oder pendeln müssten.
«Derzeit gibt es fünfzehn Kids aus der Umgebung, die aus Eigeninitiative regelmäßig kommen, sie haben eigene Schlüssel und können die Räumlichkeiten autonom nutzen», sagt Daniel. Er verzeichnet dies als Erfolg: Nicht jede_r interessiere sich für Technik, von den wenigen bleiben am Ende viele übrig: Eine Abiturientin mit den Schwerpunkten Kryptografie und Mathematik ist mit ihren Spezialinteressen am Bahnhof nicht allein, ein syrisches Mädchen, das während der Lockdowns mit einem Open-Source-Programm Animationsfilme produzierte, synchronisiert sie im hauseigenen Medienstudio; vom medial beschworenen Koller vorm Gerät ist vor Ort nichts zu spüren. Als Soforthilfe für technisch unterversorgte Schüler_innen hat Daniel Laptops mit Lubuntu-Betriebssystem verteilt, das dazugehörige Software­paket beinhaltet auch viele Spiele: Gut in Mathe zu sein fällt seither leicht – um weiterspielen zu können, muss man zwischendurch Aufgaben lösen. Den Spaß am Gerät stellt dies keineswegs in Abrede, und im Kopfrechnen sind die Schüler_innen seither besser denn je.

Fehlende Hardware.

Anfangs war die Verunsicherung groß, viele Arbeitsmittel waren nicht vorhanden. Zwecks Erhebung des digitalen Bedarfs setzte Daniel Domscheit-Berg zu Beginn der Corona-Krise auf Fragebögen und erkannte schnell, wo es ha(c)kt. Die Bandbreite vieler privater Internetverbindungen reichte oft nicht aus, um einfache Seiten über den Browser abzurufen, in weniger als 15 Prozent der befragten Haushalte waren die Drucker überhaupt vorhanden, mit denen die Schüler_innen ihre Arbeitsblätter ausdrucken hätten sollen. Wie man mit Computern lernt, muss erst gelernt werden, und vorausgesetzt wurde viel. Der Verein havel:lab e.V. sorgte nicht nur für die Verbesserung vieler Verbindungen, seine Mitglieder setzten Moodle-Lernplattformen auf und stellten BigBlueButton-Server für Videokonferenzen zur Verfügung; anders als bei Zoom und Webex werden sie im hauseigenen Rechenzentrum gehostet und sind Open Source. Abseits davon wurden im Maker-Space an der Havel mehr als 10.000 Visiere für Krankenhäuser produziert.
Es ist bereits der fünfte Zug, der an diesem Nachmittag vor meinen Augen vorüberfährt, die bunten Graffiti auf den Frachtwaggons wirken wie Schlagzeilen der größten Wandzeitung der Welt. Auch unbewegte Lettern bekommt man am «Verstehbahnhof» zu lesen. Im Eingangsbereich befindet sich ein offener Bücherschrank, dessen schwindender Bestand Daniel in letzter Zeit stark beschäftigt. Viele Bücher verschwänden, ohne je gelesen worden zu sein, mutwillige Plünderei schließe er eher aus. Es könne daran liegen, dass man am nahe gelegenen Papier-Verwertungshof dreißig Cent pro Kilo bekommt, Menschen, denen es am mindesten mangle, gebe es auch vor Ort zu viele. Um der Sache auf den Grund zu gehen, hat Daniel ein altes Smartphone präpariert und es in einem Buch versteckt – den Weg der Seiten will er auf diese Weise nachverfolgen. Er springt auf und greift zum Handy. Freunde aus Berlin haben sich angekündigt, sie werden bald vor Ort sein.

Heiße Luft.

«Zum Schluss zeige ich dir noch das Rechenzentrum», sagt Daniel, «in gewisser Weise ist es das Herzstück des Verstehbahnhofs.» Wir stehen auf und gehen in den Keller. Vorbei an der Volxküche, vorüber an den gestapelten Kisten mit leeren Club-Mate-Flaschen. Sie sind für weitere Mate-Lights reserviert – kleine, runde Platinen mit mehrfarbigen LEDs, die vom Boden der Flaschen aus den Raum erleuchten. Gleich daneben ragt ein Rohr durch den Plafond. Damit leitet Daniel die Heißluft aus dem Rechenzentrum um, im Winter beheizt er damit Teile seines Hauses. «Im Zentrum jeder ökonomischen Theorie steht die Frage des Besitzes – oder auch die der Wiederaneignung der Produktionsmittel», sagt er und ich pflichte ihm bei. Das Rechenzentrum des «Verstehbahnhofs» befindet sich in den eigenen Räumlichkeiten, verwaltet vom Verein. Drei der Schränke sind für externe Projekte reserviert, die für den Dauerbetrieb anfallenden Stromkosten durch Spenden abgedeckt. Neben einem der Racks steht eine Oma-Lampe, Daniel knipst sie an. An der Ausgangstür des Serverraumes kleben Pickerl von vergangenen Chaos-Computer-Club-Kongressen, auch der «Verstehbahnhof» wird sich am diesjährigen Jahresendzeit-Event virtuell beteiligen. Kurz vor dem letzten Foto hat Daniel es eilig. In wenigen Minuten kommen seine Gäste an – an einem Bahnhof, den man nur ungern noch am selben Tag verlässt. 

https://havellab.org
www.verstehbahnhof.de