Kraus und die NachweltDichter Innenteil

Der letzte Teil der Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus

Ein ganzer Kerl ist einer, der die Lumpereien nie begehen wird, die man ihm zutraut. Ein halber, dem man die Lumpereien nie zugetraut hat, die er begeht.

Karl Kraus

Alle Strategien und Verfahren der Krausschen Textpoetik stehen im Dienst ideologiekritisch und kulturpädagogisch motivierter Intentionen, alphabetisierten Kindern des so genannten wissenschaftlichen Zeitalters, die durch den täglichen Massenkonsum von Wegwerftexten das Lesen verlernt haben, dieses wieder beizubringen, und zwar durch dessen zunehmende Erschwerung.

Kurt Krolop

Tiefer als er ist kaum ein Zeitgenosse in den Zaubergarten der Sprache eingedrungen. An dem geheimnisvollen Sichverflechten und Ineinanderwachsen dessen, was dort in nie zu erschöpfendem Reichtum blüht, hatte er sein ungemessenes Entzücken. () Die ihm nahe kamen, unterlagen dem Einfluss der dauernden Hochspannung, in der sein Geist, und sein Wille lebten, und die ihr Bezauberndes hatte, wie ihr Bedrohliches. Vielleicht war es dieses Hochgespannte, das seine Erscheinung für Hass und Liebe so unwiderstehlich anziehend machte. Karl Kraus darf nachgerühmt werden, dass er den Besten seiner Zeit genug getan hat, und, die Wendung anders verstanden, den Schlechten wahrhaftig auch.

Alfred Polgar

Die Vorsicht bei der Vermeidung zu hoher geistiger Voraussetzungen kann gar nicht groß genug sein. Kein Leitspruch neuerer linker Bewegungen, von Sozialarbeitern oder Philanthropen ist das, die es sich mit dem einfachen Durchschnittskonsumenten nicht verscherzen wollen und dessen geistiges Niveau so niedrig ansetzen, damit es das eigene nicht übersteige, sondern ein Zitat aus Adolf Hitlers Mein Kampf. Wem indes Karl Kraus zu steil ist, der tröste sich damit, dass dieser auch heute fast alles, was gleichfalls als steil empfunden wird, die so genannte intellektuelle Welt, die Kultur, die Brecht zufolge ein Palast sei, der auf Hundescheiße gebaut ist die Zeitungsphilosophen, den Bachmann-Preis, die zeitgenössische Theaterszene als unverzeihlich flach entlarven würde. Mit der gewohnt lästigen Überzeugungskraft würde er uns nachweisen, dass unser Geschwätz über diesen oder jenen neuen Objektkünstler sich vom Geschwätz übers neue Nabelpiercing dieses oder jenes Popsternchens nur durch soziales Distinktionsbedürfnis unterscheide. Und die antiintellektuelle Häme der MTV- und Musikantenstadl-Schauer gegen die Arte-Seher ebenso ungerechtfertigt sei wie das Überlegenheitsgefühl dieser gegenüber jenen.

Ganz im Gegensatz zu seinem Ruf als kulturpessimistischer Apokalyptiker setzte Kraus große Hoffnungen in die Nachwelt. Sein gesamtes Werk verstand er als ein Protokoll der Missstände, das er für eine hoffentlich verständigere Nachwelt aufsetzte: Wenn mir da etwas bange machen könnte, so beträfe das weit eher mein Leben als mein Fortleben, indem ich doch zuversichtlich hoffe, dass die Nachwelt trotz allen Beeinflussungsversuchen () sich weit weniger ordinär gegen mich benehmen wird als die Welt, die mir selbst dort, wo sie sich mir nähert, zu schaden sucht

Sein Hohn gegen die Wissenschaftlhuber aber, sein ganzer Habitus lassen darauf schließen, dass er einen beträchtlichen Teil der so genannten Kraus-Forschung zu den unangenehmeren Chargen dieser Nachwelt gezählt hätte: die akademischen Verwertungszirkel und Nachlassverwurstungs-GmbHs, die sich ungefragt in den Häusern eines jeden großen Geistes einnisten. Die Anzahl der Fachpublikationen, deren Lektüre über die Originale hinaus lohnt, lässt sich in der Regel an den Fingern abzählen, der Rest zeichnet sich auch im konkreten Fall dadurch aus, dass er über Kraus alles weiß, welches Bild bis 1911 in seinem Arbeitszimmer hing, wann er einen Brief an Sidonie Nádherný aufzugeben vergaß und an welchem Tag um wie viel Uhr sein Respekt für Gerhart Hauptmann in Skepsis umschlug , alles außer das Wesentliche. An Witz und Esprit des Karl Kraus wird eifrig vorbeianalysiert. Zu Recht ließe sich einwenden, dass der wissenschaftliche Zugang mit kühler Objektivität gut beraten bleibt und sich durch zu viel Nähe zum Krausschen Duktus blamieren würde, was indes nicht davon ablenken darf, dass zu viele Buchhalter des Geistes das Verstehen des seinen erschweren, deren Referenz-Etüden sich zu diesem verhalten wie die Pferdeleberkässemmel zum Lipizzaner.

Viele schmücken sich mit Kraus, wenige erweisen ihm die Ehre differenzierten Verstehens. Da sind einmal die Feuilletonisten und Festredner, die Kraus zumeist falsch zitieren, aber nicht kennen, und sich sofort in das große Heer seiner Verächter einreihen würden, merkten sie, dass seine Worte auch ihnen auf den Leib geschneidert sind. Dann die oben genannten akademischen Devotionaliensammler und die kleinere Gruppe der posthumen Groupies. Letztere lassen sich leider immer durch einen kleinen, erschütternden Trick überführen. Legt man ihnen ein Kraus-Zitat vor, überschlagen sie sich vor japsender Begeisterung. Überklebt man bei selben Zitat den Namen des Autors aber mit sagen wir Willi Obermair, werden sie den Text als unverständlich, gestelzt oder gar als anmaßendes Kraus-Imitat abtun. Ginge es ihnen wirklich um Verständnis der sprachlichen Anatomie und nicht um Starkult, würden sie auch einem Willi Obermair den gebührenden Respekt nicht verweigern.

Wer Kraus Verdienste schätzt, wird ihn auch vor seinen Bewunderern in Schutz nehmen, indem er die unterschiedliche Qualität seiner Texte einbekennt sowie den Umstand, dass Kraus seiner eigenen Forderung nicht immer gerecht wurde: nämlich nicht absichtlich kryptisch zu schreiben, sondern dem Leser bloß gedankliche Schwierigkeiten in den Weg zu legen. Er wird hie und da bei ihm auch unnötig verwinkelte, redundante, sich in Selbstreferenzen verlierende Passagen finden, und doch deren Autor nie an jene verraten, die, was sich zwischen Büroschluss und Abendsoap nicht schnell verstehen lässt, als sperrig abtun.

Ein Vorwurf prallt allemal an ihm ab, der, ein pedantischer Sprachpolizist gewesen zu sein. Die gelegentliche Übertretung sprachlicher Normen, jener Dogmatik der Unsicheren, begrüßt er sogar ausdrücklich, und seine unverkrampfte Verwendung von Szenevokabeln wie ausgepowert und gehandicapt höhnt noch 50 Jahre nach seinem Tod der neuen Mode betulicher Sprachknigges. In der Sprache sind auch Anglizismen, Jargonwörter und volkstümliche Wendungen erlaubt, so sie Phrase und Wichtigtuerei widerstreben und durch kreatives Düngen Gedanken erblühen lassen.

Gott schütze mich vor meinen Freunden

Dass sich Karl Kraus von seinen Verehrern genauso wenig beeindrucken ließ wie von seinen Gegnern, muss auch heute als Arroganz erscheinen. Doch wem es wirklich um die Sache geht, dem mag egal sein, wie der Kolporteur der Sache persönlich zu ihm steht.

Kraus litt darunter, dass viele seiner Fans aus dem demselben Holz geschnitzt waren wie seine Hasser, zu denen jene aus unerwiderter Liebe überliefen; dass sich in der Verehrung seiner Person alle möglichen Motive tummelten außer dem Verständnis seiner sprachlichen Komposition: jenes kollektive Bedürfnis der Unterordnung unter den souveränen Herrenmenschen zum Beispiel, das von ähnlicher Art ist wie die Vergötzung des Popstars oder faschistischen Führers, des Über-Individuums, das entweder von der eigenen Individuation dispensiert oder an dessen geistiger Autorität die eigenen Allmachtsphantasien parasitär mitnaschen; Verherrlichung von Größe, um klein bleiben zu dürfen. Weiters das spaßkulturelle Abschälen des bösen Witzes von seinem humanistischem Körper, sodass bloß Zynismus bleibt von dem, was als Sarkasmus gedacht war, und die feig-sadistische Freude des kleinen Hendls, wenn ein größeres tranchiert wird, die faschistoide Begeisterung für den einsamen Rächer, der aufräumt mit dem Dreck, von dem frei zu sein schon das hussende Verstecken hinter dem Rücken des Rächers verspricht.

Schmerzlich wurde ihm das bei seinen Lesungen bewusst, wo eine enthusiastische Zuhörerschaft eher der dämonischen Intensität als dem Inhalt seiner Darbietung Beifall spendete. Ich kann nicht mehr unter dem Publikum sitzen. Diese Gemeinschaft des Genießens und Intimität des Begreifens, dieses Erraten der Gaben und Verlangen der Zugaben, dieses Wissen um den Witz und dieses Nichtwissen, dass sie damit noch nicht den Autor haben, dieses Verständnis und Einverständnis nein, ich könnte es bei meinen Vorlesungen nicht aushalten, wenn ich nicht oben säße. Dennoch brachte er für diese Fetischisierung des vorgelesenen Worts mehr Verständnis auf als für die des gelesenen.

Karl Kraus schmiss jeden aus der Schule, der eine solche um ihn bauen wollte. Und zog sich folglich den Hass seiner verschmähten Liebhaber zu. Ich spreche aus Erfahrung. Als einer, der mich nicht die Gewalt, sondern die Schwäche meiner Umgebung fürchten lässt. Ein und derselbe Korrespondent hat mich schon als Gott verehrt, als Hund verachtet. Ist der Zwist nicht in der Person, so ist er in der Zeit. Was bleibt dem, der so leben muss, übrig, als die Kontraste zu verzeichnen? Und jegliche Verzeichnung zu verzeichnen?

Germaine Goblot, seine französische Übersetzerin, die ihn auch unaufgeregt zu kritisieren verstand, fand folgende schöne Worte für ihn: So war Karl Kraus, wie ein Fels im Meer stand er da, und wir erfuhren jedes Mal von ihm, wie die Dinge waren. Dass er aber von den anderen verlangte, nicht sowohl auf ihm, dem Felsen, zu stehen, als selbst zu sein, d. h. Charaktere zu sein, das haben die wenigsten verstanden oder vermocht. Er hat immer seine Gegner auf ihre Widerstandskraft geprüft und wurde immer wieder enttäuscht. Und wirklich, es scheint mir seine einzige Schwäche zu sein und sie lag nicht an ihm :dass er keinen ebenbürtigen Gegner fand. Die ihn liebten, waren zu weich, und die ihn hassten, feige und im Grunde furchtsam. Ich habe ihn persönlich gekannt, obgleich nur sehr oberflächlich, das genügte aber, mich davon zu überzeugen, dass bei ihm Mensch und Werk eins waren, was eben wirkliche Größe und Einfalt ausmacht.

Karl Kraus wurde bezeichnenderweise von französischen Universitätsprofessoren für den Literaturnobelpreis vorgeschlagen. Dass dieser Vogel, den sein eigenes Nest beschmutzt, von diesem Nest heute noch mehr ignoriert würde als seinerzeit, läge nicht nur an seiner beharrlichen Beleidigung der Kultur- und Medienklüngel, sondern zudem an der aktuellen Beschaffenheit der Kulturmedien. Nicht weil er sich zu gut dafür wäre, würde er sich den obligatorischen Interviews, Talkshows und Livediskussionen verweigern, sondern weil deren sprachliche Verkehrsform die der Kommunikation ist Sprache also nicht als Kunst, die sich nur dem Mitdenken erschließt, sondern als demokratisch verbrämtes Medium schneller Verständigung, als Meinung, Stellungnahme, fertiges Statement oder Wettbewerb, wer die bessren Sager liefert, wer medial besser rüberkommt. Sich dem Meinungs- und Kulturmarkt, so gut es geht, zu entziehen, ist somit auch politisches Programm, mehr noch: die Versöhnung von politischem und ästhetischem Bewusstsein im Widerstand.

Jung bleiben durch Verweigerung

Hierin lebt das vitale Vermächtnis des Karl Kraus fort. Es lohnt sich nicht, ihn unter Abbeten der zwanzig ewig gleichen Zitate über den marxistischen Leisten zu schlagen, er lernte Brecht unter anderem wegen eines Gedichtes über zwei Kraniche in dessen Drama Aufstieg und Fall der Stadt Mahagonny schätzen und nicht wegen seiner politischen Positionen, desgleichen bewunderte er Rosa Luxemburg ob ihrer Persönlichkeit. Wäre es anders, hätte er nicht den Großteil der linksradikalen Agitatoren nach dem I. Weltkrieg gering geschätzt. Gerade jene politisch Bewussten, die bei seinen Betrachtungen zu Ästhetik und Stil gähnen, aber die Ohren spitzen, wenn sie Stellungnahmen zu Sozialdemokratie, Kommunismus und Wirtschaft wittern, haben nichts von ihm verstanden und gleichen Fußfetischisten, denen beim Anblick der schönsten Menschen nichts einfällt als der Wunsch, deren Zehen abzulecken. Unbelehrbar fahnden sie in seinen Worten nach Direktiven, Dogmen, Haltungen, nach den fehlenden Legosteinen weltanschaulicher Bausätze, zu denen ihr Bewusstsein normiert wurde, nicht wissend, dass die einzige positiv identifizierbare Position Kraus in der Ablehnung dieser bestand. So halte man sich in Fragen der politischen Ökonomie doch besser an Marx, und als zuverlässige Brücke von Kraus zu Marx an Horkheimer und Adorno. Und man lasse kritisches Bewusstsein dort bei Kraus nachsitzen, wo es jenem tatsächlich mangelt, bei der Sprachkritik. Und sich stets aufs Neue die Lehren erteilen, dass Sprache nicht Währung, sondern das verletzliche, tausendfach geschändete und dennoch unverwüstliche Fleisch widerständigen Denkens ist, dass die höchste Sensibilität für Tonfall, Nuance und Komma mehr geistige Autarkie verrät als das gemeinsame Nachbeten von Antiglobalisierungsfloskeln, dass bei Gesellschaftskritik der löbliche Wunsch nach kommunikativer Vernetzung sich nicht im Spinnennetz der fertigen Phrasen verheddere, mit denen die zu überwindende Ordnung ihre Kritiker sich angleicht. Dass Unkorrumpierbarkeit nicht Elitismus bedeute, und Sozialismus die Lösung sozialer Missstände und nicht die Verbiederung mit dem kulturellen Geschmack der Opfer, die vom Museumsquartier bis hinab zur Schlagerbühne als Surrogat selbstbestimmten Lebens mit Diskurs & Fun gefüttert werden und auf dem Sterbebett, in das man sie in jungen Jahren schon bettet, dann auf kein Leben zurückblicken können als auf den kollektiven Spaß ihrer geistigen Entmündigung. Wer diesen stört, wird von den Untoten so lange als lustfeindlich, frustriert, pfäffisch und altväterisch bespuckt, bis er schwach und schwankend zu diesen überläuft. Dem zu widerstehen, dazu schenkt Karl Kraus die Kraft, wenn er uns den Weg zum wahren Hedonismus weist:

Jung sein vor der Kunst, heißt mit unverminderter Frische und Ablehnungsfähigkeit, dem Maß hoher Erlebnisse treu, Unwesen und Unzulänglichkeit an sich nicht herankommen lassen. Alt sein, heißt mithatschen.


Hiermit endet die Serie. In der nächsten Ausgabe wird der Autor noch einige autobiographische Notizen zu seinem Verhältnis sowie dem seiner Familie zu Karl Kraus nachreichen.