Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus (und Johann Nestroy), Teil 15
Was hat die Nachwelt für uns getan? Nichts! Das Nämliche tue ich für die Nachwelt.
J. N. Nestroy
Wenn Kunst nicht das ist, was sie glauben und erlauben, sondern die Wegweite ist zwischen einem Geschauten und einem Gedachten, von einem Rinnsal zur Milchstraße die kürzeste Verbindung, so hat es nie unter deutschem Himmel einen Läufer gegeben wie Nestroy.
Karl Kraus
Nestroys Witterung für alles Komplizierte, Widerspruchsvolle, Vieldeutige, sich Kreuzende und Aufhebende in der menschlichen Natur, seine Gabe, gerade die halben, gemischten, gebrochenen Seelenfarben auf seine Palette zu bringen, macht ihn zum Erben und Fortsetzer Lawrence Sternes und stellt seine Bühnenpsychologie neben die moderne Chromatik eines Wilde und Shaw. Und auch darin erinnert er an die beiden Iren, dass er ganz skrupellos die ordinären Sorten der Bühnenliteratur: das Familienmelodram, den Schwank und die Posse bevorzugte, aber zugleich in höchstem Maß veredelte, indem er ihnen seinen reifen, funkelnden, facettenreichen Geist einpflanzte.
Egon Friedell
Karl Kraus hätte sich nicht nur an Friedells unsinnigen Adjektiva, sondern auch am Vergleich mit George Bernard Shaw gestoßen, sah er gerade in diesem doch ein bartgewordenes Symptom jenes humoristischen Mittelmaßes, das er durch den Kontrast zu dem von ihm wiederentdeckten Nestroy der Mittelmäßigkeit überführen wollte. Den kraftvollen Auftakt zu diesem lebenslangen Plädoyer für Nestroy war die Rede Nestroy und die Nachwelt, die er anlässlich dessen 50. Todestages im Jahr 1912 hielt.
Dass der altösterreichische Dramatiker Johann Nepomuk Nestroy heute gleichermaßen unterschätzt wird wie zu Kraus Zeiten, beweist bloß die Hartnäckigkeit der Ignoranz einer Nachwelt, die es Kraus zufolge nicht verdiene, Nestroys Nachwelt zu sein. Die von Schillerschem Pathos und idealistischer Überhöhung triefende Hochkultur verbannte Nestroy zunächst in die triviale Unterhaltung, wo ihm bis zum heutigen Tage Spaßmacher, all die Elfie Otts und Otti Schenks, mit dem Kochlöffel ausprügeln, was er selbst von 1832 bis 1862 in über 70 Stücken mit der Leichtigkeit eines Florettfechters handhabte, einen Sprachwitz, mit dem er das gesamte Spektrum der frühbürgerlichen Gesellschaft über die eigenen Illusionen und Lächerlichkeiten stolpern ließ. Nicht weiter auseinanderklaffen könnten der lange Zeit vorherrschende Josefstadt-Stil der Nestroy-Interpretation und der elegant-rotzige Habitus, der schon seinem geschriebenen Wort innewohnt und nur leicht durch die Darstellung unterstrichen zu werden braucht. Auch viele moderne Versuche intellektueller Theatermacher verewigten das Unverständnis der Nestroyschen Dialektik von Ernst und Witz, indem sie dessen Wert durch das Ausspielen des vermeintlichen Ernstes gegen den unverstandenen Witz zu heben glaubten. In Ablehnung des konservativen Sommertheaterbetriebs wurde der subversive Nestroy konstruiert und die wahre Subversion ihm damit ausgetrieben. Den einen ist der Titus Feuerfuchs aus dem Talisman ein frecher Operetten-Beau, den anderen ein Klassenkämpfer-Punk mit Method-Acting-Allüren oder je nachdem ein düsterer Beller von Textflächen. Dieser ist jenen zu trotzig, jener diesen zu tändelnd eine spielerische Gleichzeitigkeit von Trotz und Tändelei aber wurde einzig von Nestroy selbst, in Wort und Tat, eingelöst.
Dass Nestroy vielen altmodisch und hausbacken vorkommt, liegt am Jahrzehnte vorherrschenden Monopol altmodischer und hausbackener Nestroy-Interpretation. Doch man braucht ihn nicht künstlich verjüngen, die Texte sind jung genug, und die heranwachsenden Nestroyfans der Zukunft schicke man, damit ihnen sowohl der Sommerspiele-Nestroy als auch der toughe Nestroy erspart bleibe, gleich auf Zeitreise in die frühen 30er Jahre des 19. Jahrhunderts, wo ihnen schon die Kritik seiner Widersacher Appetit machen könnte, wie etwa die ungewollte Werbung des Journalisten Moritz Gottlieb Saphir, der nach der Premiere von Lumpacivagabundus sein Herz ausschüttete: Ich habe gelacht, viel gelacht, aber es war mehr ein spasmodisches Lachen, ein krampfhaftes. Meine Seele hat in mir geweint, bitterlich geweint. Ich habe Witz gesehen, aber er lag im Kote; ich habe gute Einfälle gehört, aber sie hatten Eiterbeulen; ich habe tüchtigen Spaß gehört, aber er war inficirt. Es war ein Fest für die Gemeinheit, die höchste Trivialität ausgeädert und präparirt mit einer Wahrheit zum Seekrankwerden! So neugierig geworden, würden die Kids ins Theater an der Wien stürmen und vielleicht ein ähnliches Erweckungserlebnis erfahren wie der junge Friedrich Schlögl, der sich später zurückerinnern sollte: Da ergoss sich urplötzlich über die Stadt der specifischen Sorglosigkeit und Gemüthlichkeit ein Schwefelregen von infernalischem Witz, eine Sturmflut ätzender Lauge brauste heran, ein Wirbelwind dialektischer Bravouraden erfasste sie, ein glühender Lavastrom von unbarmherzigen Controversen und teuflischen Einfällen wälzte sich verheerend über den erst kürzlich kunstvoll angelegten und mühselig gepflegten Blumengarten sinnigster Empfindung und romantischer Träumerei, ein Hagelwetter von verblüffenden Gedanken und pessimistischester Logik prasselte auf sie nieder, und das aus einem Taumel leichter Anregung und Vergnügung aufgescheuchte Wien riss Augen und Ohren auf und lachte zu der überraschenden Wendung, ja es jubelte laut. Und der Mephisto des Volksstücks, der (literarische) Abgesandte der Hölle, wie ein frommgläubiges Poetchen ihn nennen könnte, schmunzelte sardonisch und rieb sich boshaft zufrieden die Hände.
Gewendetes Pathos und ausufernde Metaphernphantasie
Vielleicht waren das kakanische Mitteleuropa und die umtriebige Pionierphase vor der Gründerzeit der einzige Raum und die einzige Zeit, in der ein Nestroy wachsen konnte. Allerdings wuchs auch nichts Vergleichbares.
Es ist, als ob bei ihm die graziösesten Bühnentraditionen des 18. Jahrhunderts mit den progressivsten des 20. ein Zweckbündnis eingingen, um gemeinsam dem romantischen Gefühls- und moralischen Problemtheater des 19. den Garaus zu machen. Nestroy führte einen völlig neuartigen Materialismus auf den Bühnen Wiens ein, wie man ihn seinerzeit nur von Georg Büchner kannte. Und einen Sarkasmus, den er durch Rückgriff auf die rasante Rhythmik der Opera buffa und der Commedia dellarte nicht wie Hämmer auf sein Publikum niederdonnern ließ, sondern diesem mit tausenden leichten Stichen eintättowierte. So vielgestaltig Nestroys Sprachkunst auch wetterleuchtet absurder Witz, gespielte Naivität, misanthropischer Zynismus, spöttische Anklage , seine liebsten Mittel sind ihm gewendetes Pathos und ausufernde Metaphernphantasie.
Lakaien, Dienstmägde, Handwerksgesellen, Klein- und Großbürger sowie Adelige wetteifern in seinen Stücken darin, den hohen Ton sprachlicher Pathetik zu parodieren und kippen je nach Klasse in den Argot ihrer Grätzln oder in die unverblümte Sprache des Erwerbsinteresses zurück. Der hohe Ton implodiert in einem Satz in grausame Derbheit, die sich im nächsten Satz zur geistreichen Reflexion hebt. Nestroy so Kraus ist der erste deutsche Satiriker, in dem sich die Sprache Gedanken macht über die Dinge. Er erlöst die Sprache vom Starrkrampf, und sie wirft ihm für jede Redensart einen Gedanken ab. Dieser völlig sprachverbuhlte Humor, bei dem Sinn und Wort sich fangen, umfangen und bis zur Untrennbarkeit, ja bis zur Unkenntlichkeit umschlungen halten, steht über aller szenischen Verständigung und fällt darum in den Souffleurkasten, () um die Theaterwirkung zu ergeben.
Nestroy gelingt als Einzigem auch eine funkelnde Symbiose von Wortwitz als Selbstzweck und kritischem Gedankenwitz. Das Staccato seiner Phantasie prasselt mitunter so schnell, dass man nicht mehr auseinander halten kann, ob diese da im Leerlauf mit sich durchgeht oder ein Ziel verfolgt. Sie tut beides. Gleichzeitig. Nestroy belohnt sich für jeden geistreichen Aphorismus mit zehn genialen Albernheiten, und für jede davon mit je zehn weiteren klugen Einsichten. Er hat den H.C. Artmann in sich noch fest an der Leine seines kritischen Bewusstseins, gibt ihm aber gut genug zu essen, damit die Phantasie weiterwuchert.
Das Lachen, das er mit wunderbar infantilen Wortschöpfungen wie der Krokodilin reizt, ist ein aufklärerisches Lachen, weil es Gewohnheit bricht. Und wenn er eine seiner Vorstadtgrazien mit ausladender Geste als das Nonplusultra der Mädlerie ehrt, dann vibriert in der Abstraktion der Mädlerie mehr als nur Lust an komischen Begriffen, sondern Ironie über aufdräuende kulturindustrielle Stereotype, die Subjektivität versprechen, aber Objektivierung bringen, in diesem Fall den Sozialtypus des Wiener Mädels. Als 150 Jahre später, in den postfeministischen 90er Jahren, die Girl Power ausgerufen wird, findet Nestroys Mädlerie in Max Goldts Weltmädchentum eine kongeniale Fortsetzung.
Nestroys ironisiertes Pathos entwickelt einen besonderen Reiz, wenn es aus dem Mund von Beamten und Handelsangestellten, den Managern seiner Zeit, perlt Glauben Sie mir, junger Mann! Auch der Kommis hat Stunden, wo er sich auf ein Zuckerfass lahnt und in süße Träumereien versinkt; da fallt es ihm dann wie ein Fünfundzwanzig-Pfund-Gewicht aufs Herz, dass er von Jugend an ans Gwölb gefesselt war, wie ein Blassel an die Hütten. Wenn man nur aus unkompletten Makulaturbüchern etwas vom Weltleben weiß, wenn man den Sonnenaufgang nur vom Bodenfenster, die Abendröte nur aus Erzählungen der Kundschaften kennt, da bleibt eine Leere im Inneren, die alle Ölfässer des Südens, alle Heringfässer des Nordens nicht ausfüllen, eine Abgeschmacktheit, die alle Muskatblüten Indiens nicht würzen kann. und mit wenigen Worten auf die Mikrosoziologie des Imperialismus verweist, kraft dessen der kleine Angestellte (Kommis) Gelegenheit erhielt, als romantischer Haudegen fremde Erdteile zu plündern.
Sprache, Sprache und immer wieder die Sprache!
Die Zensur, wegen der er nicht nur einmal im Gefängnis saß, trieb Nestroy zu Höchstleistungen an. Da der Zensor wie ein Pawlowscher Hund nur auf den amtlichen Katalog von verbotenen Gesinnungsäußerungen reagiert, tänzelte Nestroy ständig über dessen Schwerfälligkeit hinweg. Eine Beleidigung seiner Anspielungskunst ist es aber, sie auf eine schlaue Taktik zur Hintergehung der Zensur zu verkürzen. Nichts lag ihm ferner, als Tendenzstücke zu schreiben mit klaren Botschaften, welche Gesinnung nicht stärken, sondern zur Pose schockfrieren. Der Hohngigant, wie Kraus ihn nannte, mag diesen zu einem seiner bekanntesten Aphorismen inspiriert haben: Satiren, die der Zensor versteht, werden mit Recht verboten.
Einer der folgenschwersten Irrtümer ist der vom volkstümlichen Dialektdichter. Nestroy war volkstümlich, aber nicht nur, er jonglierte mit den besten Möglichkeiten des Dialekts, aber nicht nur mit ihnen. Vielmehr verhöhnte er Klassen- und Kulturgrenzen, indem er zwischen ihnen nach Belieben hin und her sprang. Heftig kritisierte Karl Kraus in den 20er Jahren Leopold Lieglers Versuche, Nestroys Stücke in ein zeitgenössisches Wienerisch zu übertragen. Was auf dem Missverständnis fußte, Nestroys avantgardistische Kunstsprache sei ein Abbild eines antiquierten Dialekts, dem noch zu viel vorbürgerliches Poussieren, Outrieren und Französeln innewohnte. Wer Nestroys Sprachwitz ethnisiert, auf bodenständigen Regionalismus beschränkt, der schüttet ihn in jene lauwarme Dialektsuppe zurück, aus welcher die heißesten Gewürze zu extrahieren Nestroys künstlerische Leistung war. Nicht einmal Wiener Mentalität lässt sich an ihm diagnostizieren, aber er erkannte diese gut an den Wienern, denen das Glück bekanntlich ein Vogerl ist: Ein genialer Mensch, schrieb er, ist ein Spatz mit gelben Flügeln, den die andern Spatzen totpecken wollen.
Der Kulturkonsument des frühen 21. Jahrhunderts findet sich im Glasperlenspiel von Nestroys Sprachkunst wahrscheinlich ebenso wenig zurecht wie der des frühen 20. Damals schützte er sich vor Nestroys Niveau mit Bildungsdünkeln, heute erscheint er ihm bloß als Sprücheklopfer und Alt-Wiener Spaßmacher, nicht ahnend, dass er fertigen Sprüchen ihr Gegenteil einklopfte und mit dem Wiener Schmäh Entsetzen trieb. Das Unverständnis von Sprache selbst trennt ihn vom Verständnis Nestroys. Unfähig ist er folglich, die gesellschaftskritische Pointe zu erfassen, die Nestroyschen Phrasenwendungen wie ins Verderben kraxeln eignet, genauso wie ihm, der die Sprache nicht beim Wort nehmen kann, weil ihm Ausdruck über Logik geht, der ideologiekritische Gehalt des schärfsten Schnorrerspruchs aller Zeiten verborgen bleibt:
Sie sind Menschenfreund, ich bin Mensch, folglich sind Sie auch mein Freund, und ein Freund kann schon dem andern mit Geld aushelfen, und dass Sie sehen, dass meine Freundschaft uninteressant ist, nehm ich das Geld ohne Interessen.
Das sei nur Wortspiel, folglich oberflächlich, raunen die, die nicht mitdenken. Aber selbst Mitdenken würde nichts nützen, weil heute kaum mehr jemand weiß, was Interesselosigkeit bedeutet. Zu Nestroys Zeiten, als das bürgerliche Kosten-Nutzen-Kalkül gerade mal begann, alle menschlichen Bindungen wie Pilzmycel zu durchdringen, gab es noch eine gewitzte Beobachterposition, ausgestattet mit der Fähigkeit, der Heuchelei einer Verwechslung von Interesse und Freundschaft auf die Schliche zu kommen. Dass wir darüber nicht mehr lachen können, ist der traurige Beweis, dass wir selbst schon längst organischer Teil des Pilzsystems sind. Nestroys grandioser Witz war hierzu vielleicht das letzte verfügbare Gegengift.
Mehr dazu in der nächsten Folge.