Anstiftungen zum Wiederentdecken von Karl Kraus (und Johann Nestroy), Teil 16
Ich habe allen Respekt vor Herrn Nestroy, wenn er auch gar keinen vor mir hat
Ferdinand Raimund
An dem Tag, als ich arm und Sie reich geboren wurden, wurde ich Ihr Feind.
Johann Nestroy
Er hat die Katzbalgereien der Geschlechter mit Erkenntnissen und Gebärden begleitet, welche die Güterverwalter des Lebens ihm als Zoten anstreichen mussten, und er hat im sozialen Punkt nie Farbe bekannt, immer nur Persönlichkeit.
Karl Kraus
Es gibt wenig böse Menschen, und doch geschieht so viel Unheil auf der Welt; der größte Teil dieses Unheils kommt auf Rechnung der vielen, vielen guten Menschen, die weiter nichts als gute Menschen sind.
Johann Nestroy
In Nestroy ist so viel Literatur, schrieb Karl Kraus, dass sich das Theater sträubt, und er muss für den Schauspieler einspringen. Er kann es, denn es ist geschriebene Schauspielkunst. Geschriebene Schauspielkunst, die Einheit von Tonfall, Wortbedeutung und deren Fortsetzung in Gestik und Grimassierung des Wortschöpfers und zwar nicht erst beim öffentlichen Vortrag, sondern schon beim Schreiben ist eine Qualität, die auch Kraus eignete. Zeitgenossen bezeugen beider Auftritte eine dämonische, satyrhafte Intensität, die das Publikum oft am Verständnis ihrer Texte vorbei in Bann zog.
Nestroy so Kraus habe mit Verachtung der Bedürfnisse des Publikums sie befriedigt, um ungehindert empordenken zu können Gleich einem guten Liebhaber wusste er umso besser zu befriedigen, je mehr er liebte oder aber verachtete. Ein Schauspielerkollege erinnerte sich, dass er einmal angesichts unverständiger Zuschauer während der Vorstellung zwischen den Zähnen Kanonen! Kanonen!, gezischt habe. Zusammenkartätschen diese Kanaille da unten! Dabei aber, ergänzte der Kollege, machte er wie ein rasender Stier, dem es zwischen den Hörnern brannte, seine lustigen Sprüche weiter und erschütterte die Zuschauer zu unsterblichem Gelächter.
Karl Kraus, vom musealen Formalismus des Burgtheaters ebenso angewidert wie von den Effekthaschereien der modernen Bühne, setzte fortan in seinem Theater der Dichtung die Sprache als Hauptdarstellerin in ihre Rechte und interpretierte mit wachsendem Erfolg neben Shakespeare, Goethe, Wedekind, Offenbach auch Sentenzen und Couplets Nestroys. In seinen Lesungen, konzedierte der Vater der Nestroyforschung Otto Rommel, lebe Nestroy, wogegen die meisten Aufführungen von Nestroy lebten.
Nestroy wurde in regelmäßigen Abständen wieder entdeckt, zum Leben erweckt hatte ihn aber nur Karl Kraus. Als jener noch leibhaftig lebte, erkannten die Vertreter der Hochkultur natürlich die Größe der Konkurrenz, die ihnen da von den Vorstadtbühnen entgegenhöhnte. Und waren damals schon dankbar für die Komplizenschaft eines Kulturjournalismus, dem in seinem Schwärmen fürs Schöne und Wahre das Hässliche und die Ware in Nestroys Anthropologie missfiel. Nur Friedrich Hebbel, seit 1846 gefeierter Burgtheaterautor, leistete sich salbungsvolle Großzügigkeit (und falsche Komparative, die sein ganzes Lob ins Gegenteil drehen): Ich liebe eine gute Posse. So gewiss eine lebendige Fliege mehr wert ist, wie ein aus Marzipan gebackener oder aus Holz geschnitzter toter Adler, so gewiss steht jene höher, wie ein mittelmäßiges Trauerspiel, und so sicher wird ein Kunstverständiger für einen einzigen Nestroyschen Witz de première qualité eine Million gewöhnlicher Jamben hingeben, die das phrasenhafte und triviale Gedankenleben des so genannten Dichters umsonst zu verhüllen suchen, wie sie sich auch aufbauschen mögen. Das nützte ihm freilich nichts, Nestroy griff auch ihm an die tragische Wurzel (Kraus), als er sein Drama Judith einen Monat nach dessen Premiere (1849) mit dem weitaus erfolgreicheren Stück Judith und Holofernes parodierte und darin Hebbels sprachliche Mängel so fein ziselierte, dass Kraus meinte, die Parodie sei von Hebbel und nicht von Nestroy. Hebbel hielt sich bedeckt und ließ den Parodisten durch seinen Freund, den bereits erwähnten Moritz Saphir (siehe Augustin Nr. 188), verreißen. In einem offenen Brief an Saphir legte Nestroy einmal mehr ein Beispiel für die ihm eigene Mischung aus verspielter Ironie und Aggression hin: Pfui! Sie sollten sich schämen, so ein alter Mann, und noch derlei journalistische Gassenbüberei treiben, gehört sich das? () Sie lächerlicher Vomkunstrichterstuhlherdieleutevernichtenwollender.
Gesellschaftskritik statt Gesinnungsgeschwür
Es sei hier nicht unterschlagen, dass Kraus Nestroy nicht nur gegen die Vereinnahmung durch die leichte Muse und gegen die Arroganz der ernsten verteidigte, sondern auch gegen jegliche politische Vereinnahmung von links. Vor dem I. Weltkrieg machte er sich einen Heidenspaß daraus, gegen linksliberale Exegeten wie den Historiker Friedjung jedes nur auffindbare Zitat ins Feld zu führen, das eher die eigene denn Nestroys konservative, antirevolutionäre und antidemokratische Gesinnung bezeugen sollte. Als Kronzeuge hierfür fungierte Nestroys Volksdefinition aus der Posse Schneider und Lady: Das Volk ist ein Ries in der Wiegn, der aufwacht, aufsteht, herumtorkelt, alles zsamtritt und am End wo hinfallt, wo er noch schlechter liegt als in der Wiegn. 1923 verteidigt er dieselben Worte gegen Egon Friedell diesmal allerdings von links. Wenn man diesem Zitat schon eine politische Aussage unterstellen wolle, so Kraus, dann sei damit nicht die prinzipielle Demokratieunfähigkeit des einfachen Volkes gemeint, sondern das liberale Gesindel, also die kapitalistische Bourgeoisie und überrascht mit einer charmanten, weil kleinlauten Selbstanzeige: Und ich selbst mag in dem Bestreben, Nestroy gegen liberale Berufungen zu schützen, ehedem manchmal zu weit gegangen sein. Für seine linken Nachläufer dürfte das ein ersehntes Happy-End bedeutet haben, den Feinden der ersehnte Beweis seiner politischen Wankelmütigkeit. Ungeachtet dieses politischen Reifungsprozesses macht es keinen Unterschied, ob Kraus einem Friedjung von rechts oder einem Friedell von links kommt, so jener Nestroy von links, dieser von rechts kommen will, sondern demonstriert die konstante Intensität seiner Notwehr gegen Flachsinn und Taubheit in Kunstdingen, einen Geist auf seine Gesinnung zu untersuchen.
Das ist kein Bekenntnis zum Ästhetizismus, sondern durchaus auf den Wert literarischer Gesellschaftskritik gemünzt, worin Kraus prominente Vorgänger hat. Auch Friedrich Engels verabscheute linke Tendenzkunst, mit welcher der Künstler eher seinen Anschauungen als seiner Zeit ein Denkmal setzt. Im Visier hatte er dabei den durchwegs engagierten Emile Zola, dem er als bessere Alternative den bekennenden Monarchisten Honoré de Balzac entgegenstellte. Diesen hielt er für einen weit größeren Realisten als alle Zolas passés, présents et à venir. Von seiner Comédie humaine, wie das 91-bändige Romanwerk Balzacs genannt wird, habe er mehr über das Wesen der Bourgeoisie gelernt als von allen berufsmäßigen Historikern, Ökonomen und Statistikern dieser Zeit zusammengenommen. Und so moniert auch Kraus die Überlegenheit von Nestroys Comédie humaine gegenüber dem modischen Naturalismus, der außer den psychologischen Vorschriften noch andere Vorschriften für den Hausgebrauch erfüllte, indem er die Dinge beim rechten Namen nannte, aber vollzählig, dass ihm auch nicht eines fehle, während das Schicksal als richtig gehende Pendeluhr an der Wand hing.
Nichts zur Sache tut also, dass Nestroys politische Vorlieben einer konstitutionellen Monarchie galten. Mit einigen Unterbrechungen: Während der 48er-Revolution hat er sich mit der Posse Freiheit in Krähwinkel unmissverständlich auf die Seite der Revolution geschlagen, ohne aber seine Pflicht als Satiriker zu verraten. Denn mit dem Radikalen Eberhard Ultra schuf er die Figur eines young rebel, der mehr gewitzt als angry ist und zu dessen politischen Pflichten nicht nur die Revolution zählt, sondern auch die Entlarvung der gewaltbereiten, aber gedankenlosen Masse, all der Mitläufer, drittklassigen Dichter und Intellektuellen, der Profiteure und Renegaten zukünftiger Restaurationen, die das Treibgut einer jeden revolutionären Bewegung darstellen. Gleich Gustave Flauberts Roman LEducation sentimentale kann Freiheit in Krähwinkel auch als Persiflage und Sittenspiegel einer jeden linken Bewegung nach 1848 dienen und erschrecken wird, wer es in Hinblick auf die 68er-Bewegung liest.
Materialismus bis zur Unerträglichkeit
Doch die politische Bedeutung Nestroys liegt letztlich woanders. Im 19. Jahrhundert dominierten romantische Sentimentalität und idealistisches Pathos die Bühnen Europas, mit dem naturalistischen Theater im Fin de Siècle wechselte nur das Sujet, weniger der tragische Duktus. Realismus und Ideologiekritik konnten sich zunächst nur in den Komödien und Parodien der Volksbühnen Bahn brechen, dort indes genossen sie Narrenfreiheit. Mit solch einem philosophisch durchwachsenen, dialektischen Witz allerdings wie dem Nestroys hatte niemand gerechnet. Es gibt keinen gnadenloseren Materialismus als den seinen. Von Tonfall und Gestik bis zur Gesamtdramaturgie juckt in all seinen Stücken der Widerspruch zwischen den Geschäftsbedingungen der bürgerlichen Gesellschaft und all ihren sittlichen und sentimentalen Versuchen, sich darüber hinwegzutäuschen. Ohne moralische Anklage, jedoch mit infernalischem Hohn führt Nestroy die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche vor, den Triumph von Markt- über Gebrauchswert (Marx), von Lebensmittel über Lebenszweck (Kraus). In Komödien wie Eine Wohnung ist zu vermiethen (1837) und Heimliches Geld, heimliche Liebe (1853) sparte Nestroy, der sein Dynamit in Watte wickelte und die Gemütlichkeit zuerst einseifte, wenns ans Halsabschneiden ging mit Seife und Watte und steigerte seinen Materialismus, den automatisierten Leerlauf des Sich-gegenseitig-Übervorteilens, zu solch Unerträglichkeit, dass sie unter Tumulten vom Spielplan genommen wurden.
Hier drängt sich die Frage auf, wie viel sein Publikum tatsächlich verstand. Dass es Nestroy mit Possen zufrieden stellte und Gedankentiefe an ihm unbemerkt in einer an Karl Kraus adressierten Flaschenpost vorbeischmuggelte, kann allein deshalb nicht ganz stimmen, weil, wie Kraus selbst einräumt, auf jeder Seite Nestroys Worte stünden, die das Grab sprengen, in das ihn die Kunstfremdheit geworfen hat, und den Totengräbern an die Gurgel fahren. Das legt die Vermutung nahe, dass sein Publikum ihm, wenn schon nicht auf halbem Wege, so doch ein schönes Stückchen weiter entgegenzukommen fähig war als ein späteres. Zwischen dem analytisch imprägnierten Spott des Komödianten und der Rezeptivität seines Publikums muss ein, wenn schon, eingeschränktes Einverständnis bestanden haben. Die Wiener des Vormärz, zu einem guten Teil das Strandgut diverser Migrationsschübe, erlebten gleichermaßen die Repressionen des Absolutismus wie eines aufstrebenden Kapitalismus. Gleich einem Jahrhundert zuvor in England und einem halben zuvor in Frankreich mag diese Goldgräberperiode der bürgerlichen Gesellschaft auch im k. k. Österreich einen scharfen Realitätssinn provoziert haben, ehe die Maschinerie der Ideologiefabrikation durch Presse, Operette, Film etc. so richtig losratterte, als der Mensch noch nicht als Konsument entdeckt und somit schutzloser diesem urbanen Werteentwertungsdschungel ausgeliefert war. Daran zerbrach er oder wehrte sich gerüstet mit dem vormodernem Erbe feiner Sprachempfänglichkeit und einem genuin österreichischen Sinn für gewitzte Mehrdeutigkeit durch schnelle Auffassung und mit frecher Goschen. Teile des Publikums dürften auch über die subtileren Sarkasmen Nestroys gelacht haben, welche Kraus ihren Kindern und Kindeskindern erst erklären musste. Und wohl dürften sie die grausame Ironie der Happy-Ends verstanden haben, die nur vordergründig den Vorgaben der Burleske gehorchten, mit welchen Nestroy aber ganz im Gegenteil die Illusion der Versöhnung von richtigem und falschen Leben verhöhnte.
Nestroys Witz, wie Karl Kraus nicht müde wird zu betonen, ist keiner der Schadenfreude, bei ihm führt das lachende Begreifen zynischer Verhältnisse nicht zur zynischen Identifikation mit diesen. Nestroy macht sich über den hohen Ton nicht lustig, um bei den einfachen Leut besser anzukommen, sondern erweist ihm Respekt, indem er bloß dessen Spreizung und Schwellung persifliert, selbst in seiner Pathosverarschung bleibt er pathetisch Aber der Witz lästert die Schornsteine, weil er die Sonne bejaht. Und die Säure will den Glanz und der Rost sagt, sie sei nur zersetzend.
Nestroy ist die mythische Ureinheit aller modernen Theaterschulen, in ihm sind noch alle Tendenzen kraftvoll, elastisch und dämonisch vereint, die sich später in Einzelaspekte, in Valentin, Brecht, Beckett, Monty Pythons, Jelinek und Ali G. aufsplitten sollten. Wer diese wieder vereinen will, wird die Zeitreise nicht scheuen dürfen und bei ihm in die Schule gehen müssen. Die Lektüre von Karl Kraus Nestroytexten verkürzt die Lehrzeit immens.
Lesetipp:
Karl Kraus: Nestroy und die Nachwelt. In: Der Untergang der Welt durch schwarze Magie. Frankfurt a. Main 1989