«Krisen kommen zeitversetzt»tun & lassen

Gudrun Steinmann hat zehn Jahre lang als Beraterin der Schuldnerberatung Wien Menschen auf dem Weg in die Schuldenfreiheit begleitet. Nun ist sie für die Finanzbildung zuständig, eine immer wichtiger werdende Säule der Einrichtung. Denn Prävention ist die halbe Miete.

INTERVIEW: SÓNIA MELO
FOTO: JANA MADZIGON

Über 50.000 Personen erhielten 2021 laut aktuellem Schuldenreport Unterstützung von einer der zehn staatlich anerkannten Schuldnerberatungen Österreichs, etwa ein ­Fünftel davon in Wien. Wer kommt mit ­welchen Problemen zu Ihnen?
Gudrun Steinmann: Ein klassischer Fall in der Beratung betrifft eine verschuldete Person um die 40 Jahre. Nicht weil man mit 39 auf einmal besonders schlecht mit Geld umgeht, sondern weil sich über viele Jahre eine Verschuldung zu einer Überschuldung angehäuft hat und sie keinen Ausweg mehr sehen. Die Menschen, die zu uns kommen, haben oft schon über 60.000 Euro Schulden, meist ist das die Summe verschiedener «kleiner» Beträge: Rechnungen für ­Handy, Streaming-Dienst und Versandhäuser. Arbeitseinkommen ist der wichtigste Faktor: der Verlust des ­Arbeitsplatzes, Langarbeitslosigkeit und prekäre Arbeitsverhältnisse. Unregelmäßiges Einkommen führt oft zu Verschuldung. So war jede dritte bis vierte Person, die zu uns kommt, einmal selbstständig. Oft sind es auch einschneidende ­Erlebnisse, Schicksalsschläge wie eine Scheidung oder eine ­Krankheitsdiagnose, die zu Überschuldung führen. Auch Sucht ist bei uns ein großes Thema, ob Alkohol-, Drogen- oder Spielsucht.
Die ersten Schulden beginnen bereits kurz nach der Volljährigkeit, mit einem kleinen Kontoüberzug. Man versucht den Kopf über Wasser zu halten. Natürlich gibt es gute Gründe, warum die Menschen erst zu uns kommen, wenn ihre Situation schon sehr dramatisch ist. Denn es ist mit Scham verbunden, darüber zu reden. Geld ist hierzulande tabu. Über Geld redet man in Österreich nicht viel, über Schulden noch weniger. ­Unsere Empfehlung ist aber: Kommen Sie lieber früher als später!

Wie lange begleiten Sie Menschen auf dem Weg in die Schuldenfreiheit?
Selten ist die Begleitung von kurzer Dauer, meist begleiten wir ­unsere Klient:innen über Jahre, im Durchschnitt ein Jahr. Bei den meisten gibt es einen Weg aus der Überschuldung. Sehr häufig ist der Ausweg ein Privatkonkurs, ein sogenanntes Schuldenregulierungsverfahren. Wir begleiten unsere Klient:innen zum Bezirksgericht und stellen einen Antrag auf Privatkonkurs, eine Lösung, die in sehr vielen Fällen greift, stellen wir fest.
Wir haben in Wien jährlich zwischen 1.500 bis 2.000 Schuldenregulierungsverfahren, die wir unterstützen und begleiten – auch nach Abschluss des Verfahrens, denn wer schon einen Brief vom Inkasso­büro oder Rechtsanwalt bekommen hat, weiß, wie sprachlich ­unverständlich ­solche Schreiben sein können.

Ist diese Begleitung immer kostenlos, auch wenn sie sich über Jahre zieht?
Unser Angebot ist kostenlos und unabhängig, ganz gleich wie oft unsere Klient:innen in die Beratung kommen oder wie lange wir sie begleiten. Wir verkaufen keine Produkte. Uns geht es darum, Menschen zu informieren, wie sie ihr Geld gut einteilen und wo sie sich hinwenden können, wenn es Probleme gibt. Kostenfrei ist auch unsere telefonische Beratung, die wir mit dem Ausbruch der Corona-Pandemie eingeführt haben. Dabei ist die Hemmschwelle gesunken. Wir können sehr viel telefonisch klären, Menschen sparen sich so lange Fahrtwege zu uns, das hat dazu geführt, dass das Angebot besser angenommen wird.

Der Schuldenreport hält fest, dass der Anteil junger Menschen, die überschuldet sind, seit Jahren stetig wächst. Bedarf es hier mehr Präventionsarbeit?
Zweifelsfrei. Jede:r vierte unserer Klient:innen ist unter 30 Jahre alt. Deshalb bieten wir seit zweieinhalb Jahren in Wien den Finanzführerschein in Polytechnischen Schulen und Berufsschulen an, unterstützt von der Arbeiterkammer und in Kooperation mit der Bildungsdirektion Wien. In mehreren Unterrichtseinheiten reden und diskutieren wir mit den Schüler:innen, arbeiten an ihrer Basisfinanzbildung. Zentral ist die Vermittlung von sehr lebenspraktischem Wissen: Einnahmen, Ausgaben, Kontoüberzug. Aber auch im Bereich Wohnen: Wenn ich aus dem Elternhaus ausziehe, mit wie viel Geld muss ich rechnen? Damit junge Menschen nicht gleich mit der Volljährigkeit in die Schuldenfalle tappen, um auch einer späteren Überschuldung vorzubeugen. Wir bieten auch Workshops für junge Erwachsene an, die arbeitssuchend sind oder Mindestsicherung beziehen. In unseren Workshops weisen wir auf das Kleingedruckte hin, vor allem im Internet, wo man so schnell mit einem Haken bei etwas zustimmt, worüber man nicht wirklich informiert ist. Zudem führen wir ­maßgeschneiderte Workshops zu Finanzbildung in sozialen Einrichtungen durch.
Was wir als drittes anbieten, abgesehen von Schuldnerberatung und Finanzbildung, ist ein betreutes Konto, mit dem wir Menschen unterstützen, die von Wohnungslosigkeit bedroht sind. Von diesem Konto werden Fixkosten – für Wohnung und Strom – immer regelmäßig und pünktlich bezahlt.
Unsere vierte Säule ist die Budgetberatung: Wir sehen uns die Einnahmen und die Ausgaben der Klient:innen genau an und kommen oft auf Blindflecken. Denn manche scheinbar kleinen Ausgaben, sei es die Jause beim Bäcker, der Coffee-to-go oder der Energydrink, verbergen hohe Geldsummen. Man hält die Karte schnell hin und merkt gar nicht, wie viel Geld da zusammenkommt. Manchmal wird es einem dann bewusst, dass viele Ausgaben leicht verzichtbar sind.

Viele Tätigkeiten. Sind die Ressourcen auch viele?
Die Schuldnerberatung ­eröffnete 1989 und war zunächst eine Magistratsabteilung der Stadt Wien. 2004 ist sie fusioniert worden in den Fonds Soziales Wien, wo wir nun eine gemeinnützige Tochtergesellschaft sind. Insgesamt besteht das Team aus 62 Mitarbeiter:innen, vollzeitäquivalent 35. Wir sind Expert:innen im Schuldenthema, Sozialarbeiter:innen und Jurist:innen.

Ist die Beratung mehrsprachig?
Bei Behörden und beim Gericht ist die Amtssprache Deutsch, ­daher ist unsere Beratung auf Deutsch, wir bieten ­keine mehrsprachige ­Beratung an. Oft ist es so, dass aus dem Freund:innenkreis der Klient:innen jemand für Übersetzung herangezogen wird, wenn nötig. In Einzelfällen ­haben wir Kolleg:innen mit verschiedenen muttersprachlichen Kenntnissen im Team, die unterstützen. Aber grundsätzlich vermitteln wir das Wissen, um Schulden zu regeln, in möglichst einfacher deutscher Sprache. Denn Begriffe, Verträge, Gerichte sind im Normalfall in deutscher Sprache.

Macht sich die Teuerungswelle bereits in der Schuldnerberatung bemerkbar?
Wir registrieren im Schnitt 600 Neuanmeldungen pro Monat, das sind Menschen, die uns zum ersten Mal anrufen oder ein Mail schreiben und um ein Erst-Beratungsgespräch ansuchen. Während Corona sind die Zahlen leicht zurückgegangen, aktuell können wir eine Steigerung von ca. 10 Prozent im Vergleich zu den letzten zwei Jahren bemerken, vor Corona hatten wir ähnlich hohe Zahlen.
Krisen kommen immer erst zeitversetzt zu uns. Jetzt spüren wir die Teuer­ungswelle noch nicht in den Anmeldezahlen. Vereinzelt tauchen schon Fragen dazu auf, aber der große Ansturm, davon gehen wir aus, wird frühestens erst 2023 oder 2024 kommen. Weil Menschen lange noch versuchen werden, mit dem Geld über die Runden zu kommen, aber irgendwann ist das Ersparte weg und es gibt keine ­Quellen mehr. Ich rate Menschen, die bereits merken, sie verschulden sich, gleich in die Beratung zu kommen. 

www.schuldnerberatung-wien.at