Klartext zur Sandlervertreibung
Für AUGUSTIN-Leser M.G. ist die elektronische Vernetzung ein Werkzeug für politische Aktivität. Er belästigt Institutionen, die er für die soziale Spaltung der Stadt mit für verantwortlich hält, mit E-Mails. Zu einem – unter anderem vom AUGUSTIN thematisierten – Phänomen, nämlich der Vertreibung von „Randgruppen“ aus dem öffentlichen Raum, fiel ihm ein Mail an die Verkehrsbetriebe ein. Die Antwort wollte M. G. uns – und wollen wir unseren LeserInnen – nicht vorenthalten. AR Rudolf Nestler (Kundendienst der Wiener Linien) schreibt:
„Zu Ihrem Wunsch nach mehr Sitzmöglichkeiten in Haltestellen teilen wir Ihnen folgendes höflich mit:
Die Erfahrungen zeigten, daß U-Bahn- Stationen leider auch von Unterstandslosen und sonstigen Randgruppen der Gesellschaft als Aufenthaltsort mißbraucht werden. Dies geschieht umso eher, je besser eine Station mit Sitzgelegenheiten ausgestattet ist.
Durch diesen Mißbrauch fühlen sich Fahrgäste belästigt und es entstehen höhere Kosten für die Stationserhaltung und die Reinigung. Selbst bei einer Vermehrung der Sitzgelegenheiten kann nicht für jeden Wartenden ein freier Platz bereitgestellt werden.
Deswegen stellt die Anzahl der Sitzgelegenheiten immer einen Kompromiß zwischen den Wünschen der wartenden Fahrgäste, den baulichen Gegebenheiten und den Maßnahmen zur Vermeidung einer mißbräuchlichen Verwendung dar.
Wir bitten daher um Verständnis, daß die Anzahl der Sitzgelegenheiten nicht erhöht wird, zumal auch die Wartezeit aufgrund der kurzen Zugintervalle gering ist.“
Man könnte diese klare Stellungnahme des Kundendienstes für sich stehen (und wirken) lassen, aber es juckt uns doch, den bürokratischen Mißbrauch des Begriffs „Mißbrauch“ anzusprechen. Der Begriff kommt in dem Schreiben immerhin in drei von vier Absätzen vor.
Eine U-Bahnstation ist überall in der Welt ein urbaner Knotenpunkt mit urbanem Geschehen. Urbanes Geschehen reduziert sich nie und nimmer auf den Akt des Wartens-Umsteigens-Befördertwerdens. Die Menschen auf U-Bahnstationen sind nämlich nicht nur „Kunden“, und vor allem nicht nur „Beförderungsfälle“, sondern sie sind Menschen. Als solches wollen sie auf öffentlichen (und von der Öffentlichkeit bezahlten) Plätzen, und dazu zählen die Passagen und U-Bahnstationen des öffentlichen Verkehrssystems, zum Beispiel auch kommunizieren, zum Beispiel auch verschnaufen, zum Beispiel auch flirten, zum Beispiel auch „Leut‘-Schauen“.
Nach der Logik des Kundendienstes begehen alle Menschen, die in Stationsbereichen eine bestimmte Zeit lang nicht als „Beförderungsfälle“ funktionieren, sondern miteinander quatschen, ohne auf die im Intervall passierenden Züge zu achten, einen Mißbrauch der Station. Diese Logik ist erbärmlich. Noch erbärmlicher ist es, einem Obdachlosen vorzuwerfen, er mißbrauche öffentlichen Raum. Ein Obdachloser ist per Definition auf den öffentlichen Raum als Aufenthaltsort angewiesen, also ist jeder Gebrauch dieses Raums (sofern dabei keine Gesetze übertreten werden) ein korrekter, und von Mißbrauch kann in diesem Fall schon ganz und gar nicht die Rede sein.
Kundendienste sollte gelegentlich ihre Arbeit reflektieren und Menschendienste leisten.