Kunst am FingernagelArtistin

International liegen sie schon länger im Trend: künstlerisch designte Fingernägel. Ist das ein Spleen der Modewelt, oder sind bald auch in Wien alle Fans von Nail-Art?

Text: Ruth Weismann
Fotos: Magdalena Fischer

Auf einen hellblau lackierten Fingernagel tupft Greta Wenko weiße Farbe. Bald erkennt man Wolken. Dann kommen noch schwarze Raster dazu, rot und dunkelblau ausgemalt – das typische Windowsdesign, interpretiert für ein paar Quadratmillimeter. Auf die Nägel der anderen Hand streicht sie grün-schwarze und lila-rote Farbverläufe, um dann mit feinem Pinsel pinke Bubbles, weiße Dreiecke und Schachbrettmuster aufzumalen – eine 1980er-Jahre-Computerspielästhetik entsteht, jeder Fingernagel sieht anders aus. Zu verfolgen ist das alles in einem Making-of-Video auf @couldbe­yournails2, Wenkos Instagram-Account.
Videos wie dieses findet man im Netz viele. Nail-Artists von Los Angeles über ­Tokyo bis Lagos präsentieren so ihre Arbeit. In Wien ist Greta Wenko aber eine der ersten. «Nagelstudios gibt es an jeder Ecke. Die sind auch gut in dem, was sie machen. Man bekommt Pflege, eine Farbe und French Manicure. Auf die Art spezialisiert, wie ich das mache, da kenne ich nur zwei oder drei in Wien», erzählt die Fingernagelkünstlerin beim Gespräch in ihrem Home-Studio in Wien Margareten. Sie sitzt an ihrem Arbeitstisch und holt Equipment aus einem Holzkästchen: Nagellacke in allen erdenklichen Farben, Döschen mit Glitzersteinen, mit selbstgetrockneten kleinen Blüten, bunten Papieren, verschiedene schon bemalte Press-ons (künstliche Nägel zum Aufkleben). Und ihre handgefertigten Fimo-Bärchen, die sie gerne für den 3D-Effekt auf Nägel klebt oder direkt am Nagel modelliert. «Nail-Art ist aber auch in Wien definitiv im Kommen», fügt sie hinzu.

Modemetropole Wien?

Wenko hat sich vor rund einem Jahr als Nail-Artist selbstständig gemacht. Die heute 28-Jährige hat die Modeschule in Hetzendorf besucht, danach in verschiedenen Städten, u. a. London, Paris und Florenz, studiert und als ­Accessoire-Designerin gearbeitet – Schuhe, Taschen, Gürtel vor allem. Bunte, kreativ gestaltete Fingernägel sind für sie auch eine Form von Accessoire – und künstlerischer Ausdruck. «Ich habe schon immer viel gemalt. Aber die Fingernägel hat man halt ständig dabei», stellt sie fest. Lange Zeit hat sie nur sich selbst die Nägel gemacht. Schon immer vielfältig, bunt, schräg. Im ersten Lockdown zog sie nach Wien zurück, saß bei ihren Eltern im Wohnzimmer und dachte: «Mal schauen, ob das in Wien ankommt.»
Wie sehr es ankam, hat sie selbst überrascht. «Wien ist ja nicht so die Modemetropole», sagt sie und lacht dabei, aber liebevoll. Denn Greta Wenko liebt Wien. «Es gibt so schöne Gebäude», findet sie. Die sind eine ihrer Inspirationsquellen. Für ihre Designs recherchiert sie viel in Zeitschriften und im Internet, in Museen und auf der Straße. Wenn ihr etwas gefällt, fotografiert sie es, und verarbeitet Elemente davon – zusammen mit spontanen Ideen – in ihren Designs. Zum Beispiel Teile von Wiener Fassaden, wie etwa das Hundertwassergebäude, dessen typische Ästhetik in Schwarz-Weiß mit bunten Einsprengseln sie vor kurzem für eine Kampagne der Stadt Wien auf den Nägeln von Rapperin Bex Noir entwarf. Fake Nägel statt Fake News gibt die Kampagne als Motto aus. Dass sogar die Stadt Wien schon auf die Idee kam, zeigt, dass der Nail-Art-Trend angekommen ist. Selbst wenn er (noch) nicht massentauglich ist. Aber die junge Generation, die in den Medien gerne Gen Z getauft wird, ist generell sehr offen, was unkonventionelle, artsy, bunte und kosmopolitische Styles betrifft.
«Das ist die TikTok-Generation», sagt Wenko. Viele ihrer Kund_innen sind von dieser Generation, sind mit Social Media aufgewachsen und kennen dadurch Styles und Diskurse aus aller Welt. Auch ein paar Männer lassen sich von ihr die Nägel machen. «Da gibt es auch immer mehr.» Manchmal sehe sie einen auf Instagram und denke, den könnte das interessieren. Sie schreibt ihn dann an und fragt, ob Interesse an einer Nail-Session besteht. Die meisten sagen zu.

Szene-Frauen.

Generell dominieren Frauen die Szene – auch in konventionellen Nagelstudios. Es gibt aber auch ein paar Männer, die in der Branche arbeiten, sagt Petra Felber, Innungsmeisterin der «Fußpfleger, Kosmetiker und Masseure» der Landesinnung Wien. Das «Modellieren von Fingernägeln», wie die Tätigkeit offiziell heißt, gehört zu dieser Sparte, ist aber seit 2017 ein freies Gewerbe. Man muss kein Fachgespräch beim Magistrat führen, ist nicht WKO-Kontrollen unterworfen, aber bestimmte Vorschriften, etwa Hygiene, gelten dennoch. Seitdem hat sich die Anzahl der Nagelstudios ziemlich vergrößert, bestätigt Felber. In einer Statistik von 2020 ihrer aktiven Berufszweigmitglieder zählte die WKO 3.299 Mitglieder für den Bereich «Modellieren von Fingernägeln (Nagelstudio)» für Österreich. «Die meisten davon sind Ein-Personen-Unternehmen – Was eine Person mit zwei Händen eben leisten kann», erklärt Felber. Einige wenige haben auch Angestellte. Der Kollektivvertrag für die Sparte «Fußpfleger, Kosmetiker und Masseure» sieht 1.610 Euro brutto als Einstiegsgehalt für eine Fachkraft vor.
Greta Wenko kann inzwischen von ihrem Gewerbe leben. 70 bis 80 Euro kostet eine Session bei ihr. Im Nagelstudio ums Eck ist es teilweise um einiges billiger. Man bekommt dann aber auch nicht so aufwändige Designs. «Es ist einfach etwas anderes», meint Greta. Mit ein Grund, warum sie überhaupt begann, selbst auf ihren Fingernägeln zu malen. Sie fand einfach niemanden, der machte, was sie wollte.

Bunt muss es sein.

Auch Hana Fiegen hat in Greta Wenko jemanden gefunden, die so bunt und verspielt an die Sache herangeht wie sie selbst. Sie war eine von Wenkos ersten regulären Kundinnen und gehört zu jenen, die ihre Individualität und Kreativität durch Styling ausdrücken. «Ich habe nur ein Leben, warum soll ich nicht so sein, wie ich will», ist das Motto der 22-Jährigen. Hana Fiegen hat ständig wechselnde Haarfarben, farbenfrohes, auffälliges Make-up und dazupassende Kleidung. In ihrem Zimmer stehen bunte Neonröhren an der Wand, ein rotes Sofa, und ihre Boots sind in Regenbogenfarben angeordnet. «Früher hatte ich bunte Kleidung und Haare, aber meine Nägel nicht, und das hat mich immer ein bisschen irritiert», erzählt sie und schwingt ihre Hände grazil durch die Luft. Sie selber könne zwar gut schminken, aber auf Nägel malen weniger, sagt sie. Über Instagram hat sie irgendwann @couldbeyournails2 entdeckt – und wusste: Das ist es.
Aktuell sind Fiegens Fingernägel im Stil von traditionellen Tarot-Karten gestaltet – jeder Nagel eine andere Karte. Eine feinstens gemalte Sonne vor einer Mini-Landschaft, Schwerter, ein Skelett, ein Herz mit Messern drin. Man staunt, was alles auf so kleine Untergründe passt. «Die Idee hatte ich, weil meine Mutter Tarot-Karten legt. Sie hat mir fürs neue Jahr welche gelegt», erzählt sie, während sie am Handy durch die Foto-Sammlung all ihrer verflossenen Nageldesigns by Wenko scrollt. Da sieht man pinke Nägel mit 3D-Aufbau aus Herzchen und den kleinen Fimo-Figuren. Man sieht blaue und grüne Schlieren auf weißem Hintergrund, neonfarbene Blüten, psychedelische Pilze und abstrakte Mini-Gemälde. Fast immer sind die Nägel lang, dazwischen aber mal ein poppiges Design auf kurzen. «Auf langen Nägeln kann man mehr machen, da ist mehr Platz», findet sie. Und: «Ich mag, wie man damit gestikuliert, es ändert die Attitüde.»

Kunstgeschichte.

So etwas Ähnliches sagen viele Nail-Art-Enthusiast_innen. Der Gewinn eines gewissen Selbstbewusstseins einfach dadurch, dass man tolle Fingernägel hat. Wenn man traurig ist, schaut man runter und denkt: «There is a party on my nails!», formuliert es eine Protagonistin des Kult-Dokumentarfilms von 2012: NAILgasm erzählt die Geschichte der Nail-Art in den USA, die schon in der Disco-Ära der 1970er begann, als die Sängerinnen Diana Ross und Donna Summer lange, eckig gefeilte Nägel in Knall- oder Dunkelrot, silbrig und gold glänzend, auch gerne mal in die Kamera hielten. In den 1990ern waren es Rapperinnen wie Missy Elliott und Lil’ Kim, die mit fancy Fingernägeln ihren Style unterstrichen. Und wir alle kennen Florence Griffith-Joyner, die Leichtathletin, die mit ihren langen, bunt bemalten Fingernägeln in den 1980ern Weltkrekorde lief. Später kamen Stars wie Beyoncé, Lady Gaga und Cardi B dazu, die Farben, Formen und oft viel Steinchen, Glitzer und sogar Piercings mit Anhängern auf ihren Fingernägeln tragen. Statement-Accessoirs de luxe.
Die bekannte afroamerikanische Nail-Artist Sani Macc sagt in NAILgasm: «In the Black Community it feels like we have always had nail art.» Bevor es in den kreativen Metropolen der USA, allem voran Los Angeles und New York, zum Fashion-Statement wurde, galt kreatives Nägeldesign vor allem auf langen und vielleicht sogar künstlichen Fingernägeln vielen als «zu ghetto», wie Nageldesignerinnen in der Doku angeben. Eine typische Entwicklung, die von der rassistischen Struktur von Modeindustrie und Gesellschaft zeugen. Sehr viele Trends wurden allerdings von marginalisierten Gruppen entwickelt – die heutige Vormachtstellung der Streetwear mit ihren Sneakern ist nur ein Beispiel.
Zum Thema Nail-Art gibt es mittlerweile Magazine, Blogs und sowieso eine riesige Online-Community. Das Genre ist auch schon in der sogenannten Kunstwelt gelandet. In London fand 2011 die erste Ausstellung mit dem Titel Nailphilia, die sich mit dem Phänomen beschäftigte, in einer Kunstgalerie statt. Und das Museum of Modern Art in New York kaufte vor ein paar Jahren Nail-Artist Bernadette Thompsons «The Money Nail Art» – eine Collage aus Dollarnoten, die sie für die Fingernägel von Rapperin Lil’ Kim entworfen hatte. Der wachsende Markt kam auch durch die Faszination einer ganzen Generation mit japanischen Stilen, sowie der koreanischen Beautyindustrie, die heute großen internationalen Einfluss hat, zustande. In Japan ist Nageldesign schon lange Tradition, heute gibt es für 3D-Designs viele Spezialist_innen im Land.

Mainstream?

Hana Fiegen ist auch in den USA aufgewachsen, für sie sind schön designte Fingernägel eine Kindheitserinnerung. «Es kommt auf jeden Fall von African-American und Latin-American Frauen. Ich hatte African-American Freundinnen, deren Mütter hatten immer lange, gestylte Nägel. Das fand ich so toll», erzählt sie.
Kreativ und auffällig gestaltete Fingernägel haben aber auch Drag Queens schon seit langem entwickelt. «Ich schaue RuPauls Drag Race, das inspiriert mich total, da sind so viele tolle Menschen», sagt Fiegen. Aber auch wenn Nail-Art von bestimmten Szenen ausgehend breiter geworden ist, und auch in Wien schon längst präsent ist, ist es im Mainstream nicht angekommen. Der Trend zum «Nägelmachen» an sich schon, wie die steigende Anzahl an Nagelstudios in Wien bestätigt. Innungsmeisterin Petra Felber sieht hier die aktuellen Vorlieben aber anders: «Es gibt einige, die viel mit Steinchen und Schmuck arbeiten, aber die große Masse geht derzeit eher zu klassischen Nägeln über. Gar nicht so lange, so dass man gut arbeiten kann. Und immer mit Augenmerk auf säurearme Materialien und gute Qualität.»

Lange Nägel, mehr Spaß.

Sich kreativ austoben kann man auf kurzen wie auf langen Nägeln. Aber lange, die Greta Wenko meist aus Gel formt, machen mehr Spaß, ist sie sich mit Hana Fiegen einig. Wie man damit seinem Alltag nachgehe, lerne man im Handumdrehen. Nail-Art sei auch eine Form von Selfcare. Nach dem Lockdown, erzählt Wenko, hätten viele etwas Schönes für sich selbst tun wollen. Sich die Nägel machen lassen ist eine gute Möglichkeit. Negative Kommentare, sagt Greta Wenko, gebe es kaum, die meisten seien begeistert. Hana Fiegen, die nicht nur durch ihre Nägel auffällt, weiß ohnehin, wie es sich anfühlt, angestarrt zu werden. Aber das ist ihr egal. «Ich kann mir nicht mehr vorstellen, keine solchen Fingernägel zu haben», sagt sie. «Ich fühle mich so bunt und so crazy, und so kann ich das zeigen: mit meinen Haaren, meinem Make-up, meinem Style und meinen Nägeln.»