Zehn Jahre Fidesz-Regierung zeigen ihre Wirkung. Viele Kunstschaffende haben das Land verlassen. Eine bildende Künstlerin und eine Kuratorin erzählen, wie sie die ungarische Kulturpolitik von Wien aus erleben und welche Bedeutung Kunst in Zeiten des Demokratieabbaus hat.
Text: Lisa Bolyos, Fotos: Carolina Frank
«Wie Erde bissel trocken war, / Hat angefangt zu reiten / Held Attila mit Hunnenschar, / Um Kultur zu verbreiten. / Erst hat gegründet Ungarland, / Dann Rom, Athen és Kréta, / Und alle Menschen, was bekannt, / Sind nachgekommen späta», so schreibt’s der von den Nazis ermordete Jahrhundertdichter Peter Hammerschlag in seiner Ungarischen Schöpfungsgeschichte. Der Narzissmus, den Hammerschlag der ungarischen Kulturnation unterstellt, treibt heute wieder die wildesten Blüten.
Die Kritik verlässt das Land.
«Das Schlimmste ist eigentlich längst passiert», sagt Zsuzsi Flohr und meint damit die frühen kulturpolitischen Jahre der Fidesz-Regierung, als Gesetze revidiert, Institutionen neu besetzt und Förderungen in großem Stil umgeleitet wurden. Als die freie Szene und alles, was sich unter dem weiten Begriff des kritischen Kulturbetriebs versammelt, ausgedünnt wurde, und Kunst- und Kulturschaffende in großen Zahlen das Land verließen, «die meisten nach Wien, nach Berlin», weil es «zwar vorher schon schwer war, als freischaffende Künstlerin ein Auskommen zu finden, aber danach wurde es quasi unmöglich.»
Zsuzsi Flohr ist bildende Künstlerin. Sie macht ihren PhD an der Akademie der Bildenden Künste, wo sie auch unterrichtet («aber mit temporärem Vertrag, keine Ahnung, was danach kommt»), arbeitet daran – sobald die COVID-19-Beschränkungen überwunden und Kinderbetreuung für den kleinen Sohn verfügbar ist –, eine Einzelausstellung nach Wien zu bringen, und ist erleichtert, «dass es hier zumindest Kinderbetreuungsgeld und den Künstlersozialversicherungsfonds» gibt. All das kann aber nicht über die Traurigkeit hinwegtäuschen, ein (künstlerisches) Zuhause aus ökonomischen Gründen verlassen zu müssen. Flohr kam 2014 nach Wien. «Mein damaliger Partner und ich, beide künstlerisch tätig, sahen keine realistische Möglichkeit, in Ungarn ein Auskommen zu finden.» In Budapest war Flohr auch in den Protesten der Kunst- und Kulturszene aktiv. Sie war im Vorstand einer Künstler_innenvereinigung und «jeden Tag auf einer Demo» gegen die Umgestaltung des ungarischen Kunstbetriebs.
Geschrumpfte Strukturen.
Begonnen hat die, erzählt die Kuratorin und Kulturarbeiterin Katalin Erdödi, «sofort nach dem Regierungswechsel 2010» mit einer Änderung im Sektor der darstellenden Kunst. Ein kurz zuvor in Kraft getretenes Gesetz zur Förderung der freien Theaterszene wurde ausgehöhlt, sodass die Szene in Gefahr geriet auszubluten. Ein leichtes Spiel, so Erdödi, «weil die Förderung der freien Szene auch kein zentrales Anliegen der vorangegangenen Regierung gewesen war und die Strukturen entsprechend schwach und prekär waren».
Katalin Erdödi, die heute Mitglied des Kuratoriums für Theater, Tanz und Performance der Stadt Wien ist, hatte damals neben ihrer Arbeit als freischaffende Kuratorin eine Teilzeitanstellung in einem kleinen Produktionshaus inne. Die wurde in Folge der ausbleibenden Förderungen aufgelöst, und Erdödi, die sich keine Illusionen über ein Auslangen als freischaffende Kuratorin machte, bewarb sich erfolgreich für ein Fellowship in Deutschland. «Als ich Ende 2012 nach Ungarn zurückkam, waren zwei weitere Jahre mit der neuen Regierung vergangen, und eine spürbare Auswirkung ihrer Kulturpolitik war: Die Szene wuchs nicht mehr. Sie schrumpfte eher. Da habe ich keine spannenden professionellen Möglichkeiten mehr gefunden.» Als im Wiener brut eine Kuratorin gesucht wurde, verfestigte sich in Erdödi eine Entscheidung. 2013 ging sie nach Wien, «ohne es davor geplant zu haben».
Kettenhund Theater.
Seit Viktor Orbán 2010 ins Büro des Premierministers einzog, ist Ungarn fast täglich in den Medien. Mal wegen der Medienpolitik, die sich mit Pressefreiheit nicht vereinbaren lässt, mal weil – wie Ende März geschehen – ein Notstandsgesetz verabschiedet wird, das weit über jeden Notstand hinausgeht. Die parlamentarische Kontrolle wurde ausgehebelt, die Regierung Orbán regiert ohne zeitliches Limit per Dekret. Eine illiberale Demokratie wird Ungarn genannt, aber illiberal ist für eine Partei wie Fidesz kein Schimpfwort. Liberale, das sind Soros und der Westen mit seinen Pride-Paraden und seiner vermeintlichen Willkommenskultur, das ist die außerhalb der Grenzzäune schwelende Gefahr, die Werte der Nation zu zerstören.
Auch Ende 2019 schwappte die mediale Aufmerksamkeitswelle hoch: Ein Sammelgesetz sollte u. a. den Theaterbetrieb umkrempeln. Nach massiven Protesten wurde es überarbeitet, aber die Schraube der politischen Abhängigkeit wird fester gedreht: War den Stadttheatern staatliche Kofinanzierung bisher garantiert, so müssen sie Zuschüsse nun beantragen und individuell vereinbaren – in die Entscheidungshoheit über ihre künstlerische Leitung greift die fördernde Instanz, der Staat oder die Kommune, ein. Vier Budapester Häuser (Katona-, Radnóti-, Örkény-Theater und Trafó, Haus der zeitgenössischen Künste) die, so Katalin Erdödi, «aus künstlerischer Sicht auch als die progressivsten Institutionen gelten», werden als Resultat dieses «Kulturkampfs» zukünftig exklusiv von der Stadt finanziert. «Exklusive Abhängigkeiten von der Stadt oder vom Staat machen die Institutionen prekärer und angreifbarer.»
Dieser Schlag ging in Richtung Opposition. Nach dem Schrecken der Kommunalwahlen im letzten Jahr sollen unliebsame Politiker_innen wie der liberale Grüne Budapester Oberbürgermeister Gergely Kará-csony wenn schon nicht an der Wahlurne, dann zumindest am Kulturfördertopf geschwächt werden. Dass er sich auf die Politik des Teilens und Herrschens eingelassen hat, bringt ihm harsche Kritik ein. Einen «angeketteten Hund, der um seinen Knochen bettelt», nennt der renommierte Theatermacher Arpad Schilling das ungarische Theater im Interview mit der APA; Karácsony habe sich zum Komplizen von Zerstörung und Fragmentierung gemacht, meint Erdödi: «Die bis jetzt intakte städtische Theaterstruktur Budapests wurde entsprechend der aktuellen Machtpolitik ‹territorialisiert›.» Der Pluralität des Kulturlebens könne so eine Politik nur schaden.
Warum Kunst?
Nicht nur die darstellende, auch die bildende Kunst bekam unter Orbán ihr Fett ab. 2013 wurde Műcsarnok, die Kunsthalle am Budapester Hősök Tere, zur Institution eines nationalen und in hohem Maße uninteressanten Kunstkanons umgeformt. Zum letzten Anlassfall wurde die Ausstellung Mi a magyar? (Was ist ungarisch?) im Jahr davor genommen, die zwar bereits ein unter Fidesz ernannter Direktor zu verantworten hatte, aber offensichtlich verstand der nicht genug von Linientreue. Paprikapulver-Lines zum Schnupfen und ein Neil Armstrong, der am Mond die ungarische Flagge hisst, waren zu viel des Guten. «Nationale Blasphemie» brüllte damals György Fekete, Chef der Ungarischen Akademie der Künste (der Mitte April das Zeitliche segnete) – ein neuer Direktor musste her. Mit György Szegő war dann auch einer gefunden, der weg von der «Vermischung der Medien» zu traditionellen Kunstformen zurückfinden und die «Blase der westlichen, zeitgenössischen Kunst» platzen lassen wollte. «Fidesz verfolgte in der Kulturpolitik anfangs die Strategie, Strukturen zu zerstören oder die Macht zu übernehmen», meint Katalin Erdödi rückblickend: «Mit der Kunsthalle wurde eine bis dato international tätige Institution der Gegenwartskunst auf unglaubliche Art und Weise kaputt gemacht.»
Seit 2012 habe sie die Kunsthalle nicht mehr betreten, sagt Zsuzsi Flohr immer noch voller Abscheu und blättert durch das Online-Programm: «Nationale Salons veranstalten die jetzt!» Flohr, die selbst hohe gesellschaftspolitische Ansprüche an ihre künstlerische Arbeit hat, denkt, dass die freie Szene, die «mit ihrer Kunst Kritik übt», zum Schweigen gebracht werden soll. Und das sei ein Leichtes, «weil Künstler_innen, die sich nicht in der Einkommenskategorie von Jeff Koons bewegen, neben dem Verkauf ihrer Werke in starker Abhängigkeit von öffentlichen Förderungen arbeiten». Kunst eignet sich außerdem als Vehikel für ein nationales Narrativ. «Es ist in den letzten Jahren im Kultur- und Bildungsbereich sehr wichtig geworden, dass nationale Identität gestiftet wird und konservative bis rechtsnationale Werte vermittelt werden. Und die widersprechen natürlich den Bestrebungen kritischer Gegenwartskunst», meint Erdödi, die allerdings bei Weitem nicht nur die Kunst im Visier der Regierenden sieht: «Die Gender Studies wurden abgeschafft, die Verfassung so umgeschrieben, dass nur noch heterosexuelle Paare Familien gründen können – diese Denkweise wird auf allen Ebenen durchgesetzt.» Zum Schweigen lässt sie sich aber nicht bringen: «Wie viele andere versuche ich mein ökonomisches Standbein im Ausland zu sichern und gleichzeitig freie Projekte in Ungarn zu machen.» So wird dem «Artist Brain Drain» zumindest punktuell Einhalt geboten.
Signale aus dem Off.
Die Proteste gegen das Kapern des Kulturbetriebs gingen und gehen weit über das Kunstfeld hinaus. «Es wurde gegen die Zerstörung der Kunstszene genauso demonstriert wie gegen die Kriminalisierung von Obdachlosigkeit», erinnert sich Zsuzsi Flohr. Erstens, weil sich die Gesellschaft nur im Ganzen retten lasse, und zweitens: «Viele der Künstler_innen in meinem Budapester Freundeskreis sind auch Sozialarbeiter_innen.»
Eine nachhaltige Initiative, die aus den Protesten hervorging, ist die Off-Biennale, begründet von Kurator_innen, die unter der kulturpolitischen Agenda von Fidesz das Budapester Ludwig Múzeum verlassen hatten. Heuer findet sie zum dritten Mal statt, Motto: Levegőt! Luftholen!, womit alles von der frischen Luft ohne CO2-Emissionen bis zum stärkenden Durchatmen angesichts einer eingeschränkten Demokratie gemeint ist. Zsuzsi Flohr wird sich mit einer Arbeit beteiligen, aber das hat noch Zeit. Coronabedingt wurde diese Biennale der zeitgenössischen Kunst, die ein wenig von dem Spirit weiterzutragen vermag, der Ungarn seit 2010 sukzessive verloren geht, vom April in den November verschoben.