Kunsthaft und Strafkulturtun & lassen

Warum überall Seelsorger im Häfen und (fast) nirgends RegisseurInnen?

Date your Destiny. Theaterprojekt mit Insassen der Justizanstalt Gerasdorf. Konzept und Regie: Tina Leisch. Text: Alma Hadzibeganovic. Choreografie: Zoran Bogdanovic. WIR_HIER, Frauenkunst unter Strafe. Kunstprojekt – Theater, Film, Hörbuch, T-Shirts, Coverbags – mit Insassinnen der Justizanstalt Favoriten. Projektleitung: Beate Göbel. Zwei Beispiele von Kunstarbeit im Strafvollzug. Punktuell, temporär, nicht in jedem Häfen geduldet. Augustin-Frage an die Regisseurinnen: Müssten Kunstprojekte, personell und budgetär abgesichert, nicht österreichweit zum Standard des Strafvollzugs werden? Verträgt das System des staatlichen Strafens Kunst?Nicht Kunsttherapie, sondern Kunst bringt einen Freiheitshauch in das Gefängnis. Da Gefängnis per definitionem das Gegenteil von Freiheit ist, kann dieser Luftzug aus der Perspektive der strafenden Institution als ein Hauch des Bösen gedeutet werden. AkteurInnen mit künstlerischem statt therapeutischem Anspruch könnten demnach verleitet werden, ihren Initiativen eine kunsttherapeutische Verkleidung zu verpassen, um potenzielle Konflikte zu vermeiden. Andererseits: Auch wenn sie auf ihrem Kunstanspruch offensiv bestehen bzw. mit einer Justizanstaltsleitung zu tun haben, die Kunst akzeptiert: Ist nicht jede künstlerische Arbeit a u c h heilend?

Tina Leisch in den Besserungsanstalten: Wen oder was verbessert sie via Kunst? Die Regisseurin hat vor ihrer Arbeit mit den jungen „Räubern“ aus Gerasdorf Erfahrungen mit Männern im Alkoholentzug gemacht: Die meisten Laien ihres am Jugendstiltheater am Steinhof realisierten Theaterprojekts „Irrgelichter im Spiegelgrund“ waren Patienten in Vollzeittherapie (das Stück versteht sich als historische Recherche zu den psychiatrischen Diskursen der Zwischenkriegszeit).

Mit der Frage nach den therapeutischen Aspekten ihrer künstlerischen Arbeit, nach den Grenzen zwischen Kunst und Therapie wird sie gerechnet haben. Beide Erfahrungen zeigten, antwortet Leisch, dass sie einen Raum schaffen konnte, der nicht belastet vom Thema der Vollzeittherapie (Alkoholentzug) oder von den Gründen der Haft war, und dass sie während ihrer Arbeit in keiner Sekunde das Bedürfnis verspürte, einen pädagogischen Beitrag zu leisten, dass die Schauspieler trocken werden (im Falle Steinhof) oder Banküberfälle nicht mehr cool finden. Sie stand den Gründen des Hierseins der Laiendarsteller in den beiden Besserungsanstalten – ein antiquierter Begriff, der dennoch den aktuellen, aber zum Teil illusorischen Anspruch der Institutionen ausdrückt – gleich-gültig gegenüber, im positiven Sinn des Wortes.

Kuss, Hustensaft, Marzipanschwein

„Nie mache ich Haft von mir aus zum Thema“, sagt auch Beate Göbel. „In den Stunden, in denen ich in der Anstalt arbeite, vergesse ich die meiste Zeit, dass ich mich in einem Gefängnis bewege. In dem Moment, in dem ich spüre, dass die inhaftierten Frauen mich als Therapeutin brauchen, weil sie ein Problem haben, mit dem sie nicht selber zurande kommen, versuche ich die professionelle Therapeutin einzuschalten. Das war zum Beispiel bei einer Frau mit suizidalen Tendenzen der Fall. Sie hatte ein Problem, das sich nicht künstlerisch bearbeiten ließ. Unmöglich konnte hier die Kunst die Erfahrung einer Psychotherapeutin ersetzen. Dass jede Arbeit, auch die künstlerische Arbeit, therapeutische Potenzen hat, ist eh unbestreitbar“, meint Göbel.

„Ja, wahrscheinlich gibt es eine Spur Therapie in unserer künstlerischen Arbeit. Ich habe ja gar nichts gegen therapeutische Effekte, die alles Mögliche haben kann. Man kann durch das Lesen eines Buches, durch einen Kuss, durch ein Marzipanschwein, durch rhythmische Sportgymnastik, Hustensaft und durch Psychoanalyse geheilt werden. Der Unterschied zwischen Psychoanalyse und Hustensaft einerseits und dem Buch, dem Kuss und dem Marzipanschwein ist, dass Buch und Kuss und Marzipanschwein nicht aus therapeutischen Zwecken und Absichten hergestellt, verabreicht, genossen werden, sie sind ja was Schönes, Gutes auch ohne therapeutischen Effekt, was man von Hustensaft und Psychoanalyse nicht sagen kann … So ist es mit meiner Arbeit auch. Ich streite allerdings überdimensional heftig das Therapeutische ab, weil eben in eine Therapie gehen automatisch eine narzisstische Kränkung bedeutet: Ich brauche Hilfe, mit mir ist was nicht in Ordnung, ich gehöre repariert“, verdeutlicht Tina Leisch ihre Position.

Darüber hinaus wisse sie wirklich nicht, ob sie jemanden vom Bankenüberfallen abhalte: „Es ist nicht mein Job, würde ich sagen. Ich wirke natürlich mit meiner Weltsicht auf die Mitwirkenden ein, versuche zu überzeugen. Wie man das halt tut als Künstlerin mit tendenziell linksmissionarischer Vergangenheit. Die Erfahrung mit therapeutischen Kunstprojekten ist eben, dass dabei meistens schlechte Kunst rauskommt. Mit Ausnahmen, wie den Gugginger Künstlern.“

Zumindest guten Schmäh

Ihrer Meinung nach gehe es bei ihren Kunstprojekten „nicht nur um Ausdrucksfähigkeiten, Sprachen, Weltmodelle, Möglichkeitsformen“: Wichtig sei, dass die Leute „was für andere tun, also zumindest gute Unterhaltung, guten Schmäh, feinen Witz servieren: Dadurch nämlich ist es nicht ein Ausdruck in den leeren Raum, wie oft Mal- oder Musiktherapie, sondern es setzt eine Liebesgeschichte zwischen SchauspielerInnen und Publikum in Gang. Man bereitet Menschen Freude, Lust – und kriegt dafür Anerkennung. Vielleicht ist das der Unterschied zu den herkömmlichen pädagogischen Häfen-Projekten: Ich will immer beweisen, dass mit viel Leidenschaft alles möglich ist. Es reicht also nicht, dass sich wer ausdrückt, sondern es muss etwas zustande kommen, was wirklich fetzt, was nicht nur gnädig beklatscht wird, weil es mit dem Bonus des Sozialprojekts ausgestattet ist, sondern was als Ereignis, Erlebnis fürs Publikum eine eigene Strahlkraft entfaltet. Ganz gelingt das nicht immer, manchmal gar nicht.“

Bei „Date your Destiny“ könnte es möglicherweise funktioniert haben, fügt Leisch hinzu. Und dann denkt sie laut über die Chancen einer ständigen, selbstverständlichen, kontinuierlichen Präsenz von Kunstschaffenden in den Justizanstalten nach. Sie habe gespürt, mit ihrem Projekt im Jugendgefängnis eine Lücke zu füllen. Die Präsenz der Seelsorger, der Psychiaterinnen, der Sozialarbeiter in den „Zuchthäusern“ der Nation ist selbstverständlich geworden, während die Kunst im Häfen unerwünscht bis geduldet sei. Nur als punktuelle und temporäre passen Projekte wie von Göbel oder Leisch ins Konzept des strafenden Staates. Worin aber bestünde die Aufgabe von KünstlerInnen im Strafvollzug?

„Kunst im Strafvollzug kann als Erstes einmal die Ausdrucksfähigkeit von Menschen steigern, ohne allerdings ihnen eine Sprache, einen Jargon, einen Inhalt vorzugeben“, sagt Tina Lisch. „Im Gegensatz zur Therapie und zur Religion, die die Leute heilen, bekehren, verändern möchten, kann gute künstlerische Arbeit einfach die Aufnahmefähigkeit und eben die Ausdrucksfähigkeit der Leute steigern, kann ihren Horizont erweitern. Und sich ausdrücken zu können, nachzudenken, sich darzustellen, sich zu spüren, sich zu inszenieren etc. heißt ja auch: souveräner werden, sich erfinden statt sich immer nur von anderen was vormachen zu lassen. Heißt tendenziell Möglichkeiten sehen, die man sich nicht einmal vorstellen konnte. Heißt, in der Möglichkeitsform denken.“

Freiheit der Kunst -ausgerechnet im Knast?

Wenn im Oktober dieses Jahres (3. bis 12. 10.) in der Künstlerhauspassage ihre Produktionen mit den Delinquentinnen aus dem „Zehnerl“ vorgestellt werden, würde es auch Raum für die Diskussion über diese Themen geben, kündigt Beate Göbel an. Sowohl das Verhältnis von Kunsttherapie und Kunst als auch die Frage, wie man künstlerische Arbeit als selbstverständliche, reguläre Ergänzung zu Sozialarbeit, Seelsorge oder Beschäftigungstherapie in den Strafvollzug implantieren könnte, müssten zur Debatte stehen. Als adäquater Moderator solcher Diskussionsprozesse käme für sie der Augustin als notorisches Prison-Watching-Departement in Betracht. Ihrerseits, so Beate Göbel, würde sie in dieser kommenden Debatte die Gleichstellung der künstlerischen Arbeit mit der bestehenden obligatorischen Gefängnisarbeit anregen. Mit dem Unterschied, dass sich die InsassInnen zur Kunst freiwillig melden könnten.

„Unsere Kunstprojekte in Favoriten liefen in der so genannten Freizeit, außerhalb der Arbeitspflicht. Der Vorteil ist die Freiwilligkeit. Ideal wäre, diese Freiwilligkeit zu bewahren, aber die Teilnahme an künstlerischen Initiativen während der Haft dennoch aufzuwerten. Die Entlohnung für Mitwirkung an Theaterprojekten z. B. müsste der Entlohnung geläufiger Gefängnisarbeit entsprechen; eine deutliche Anhebung des Lohns wäre natürlich wünschenswert und auch pädagogisch sinnvoll“, entwirft Göbel ein Zukunftsszenario humanen Strafvollzugs. Ein groß angelegtes staatliches Programm zur allgemeinen Einführung der Kunst in den Strafvollzug hätte einen Doppeleffekt, so Göbel. Einerseits fördere der Staat die Resozialisierung der GesetzesbrecherInnen, gemäß politischer Rhetorik oberstes Ziel der Wegsperrung, andererseits setze er auf einem Berufsfeld, auf dem die Lage der Betroffenen immer prekärer wird, ein Zeichen innovativer Arbeitsplatzbeschaffung. KünstlerInnen, die mehrheitlich tendenziell zur Armutsgrenze neigen, hätten die Chance, im Rahmen dieses öffentlichen „Kunst in Haft“-New Deals ihre Projekte an eine nicht dem Justizministerium weisungsgebundene Jury einzureichen.

Im Augustin-Gespräch entsteht so eine erste simple Skizze eines Kunst-Justiz-Paktes, der natürlich entsprechend zu dotieren wäre. Der Versuch, diese Idee weiterzudenken, kann leicht in Zustände der Resignation führen. Denn dass der Staat neben den budgetären Voraussetzungen auch Bedingungen für die Respektierung der Freiheit der Kunst schafft, scheint aktuell kaum vorstellbar zu sein. KünstlerInnen, die ausgerechnet in der Justiz ihren radikalen Anspruch, die Kunst dürfe alles, sie müsse auch provozieren dürfen, umsetzen wollen, schließen sich selbst aus, meint Beate Göbel. Für sie selbst sei das Kriterium der Kunst nicht ihr Provokationsgehalt.

Die WIR_HIER-Projektleiterin weicht aber damit der Frage aus, ob ein umfassendes Programm zur Implantierung von Kunst in den Strafvollzug nicht doch wieder in ein therapeutisches Programm münde, wenn inhaltliche Vorgaben zu Zensur und Selbstzensur führten, wenn zum Beispiel eine Infragestellung des Prinzips des staatlichen Strafens über das Medium der Kunst verpönt bliebe.

Nach der Premiere ab in die Zelle

Genug der Fiktionen. Ankunft in der Realität. Tina Leisch berichtet. Beim ersten Treffen im Jugendgefängnis Gerasdorf habe sie die Burschen gefragt: Was möchtet ihr werden, wenn alles gut läuft? Wo und wer werdet ihr in 10 Jahren sein?

Niemand wusste eine Antwort. Weder eine spielerische („Bundespräsident“) noch eine ironische („Al Capone“) noch eine realistische, erzählt Tina Leisch. „Wenn das Theaterprojekt was Pädagogisches hatte: Dann hat es angeregt zum Utopisch-Denken, zum ,Was wäre wenn‘: Was täte Kapönü, wenn …“ Kapönü ist eine der Figuren des Stückes, ein türkisierter Möchtegern-Al-Capone. „Und unser Projekt brachte natürlich die schöne Erfahrung, dass man gemeinsam, im relativ gleichberechtigten Kollektiv, was Cooles auf die Beine stellen kann“, begutachtet die Projektautorin.

In diesem Machtgefälle von den Projektleiterinnen zu den Häftlingen so etwas wie Kollektivität zu orten, scheint dem Augustin zunächst idyllisch gemalt zu sein. Man muss nicht so weit gehen wie George Orwell („Ein Mensch, der zum Empfänger von Wohltätigkeit wird, hasst praktisch immer seinen Gönner – das ist eine feststehende Eigenheit der menschlichen Natur“); dass aber auch in bester Empowerment-Absicht der sozial Stärkere (in diesem Fall: die Projektleiterinnen) am Ende des Kunstprojekts eher bereichert sind als die sozial Schwächeren (die InsassInnen, die danach in den Trübsinn des Zellenalltags zurückgeworfen sind), sei zu bedenken, lautet unser auf klug drapierter Einwand. Er kommt in der Maske der Selbstkritik daher: Auch der Augustin-Vorstand ist Geber von Wohltätigkeit. Beiden Projektleiterinnen ist das Dilemma des Machtgefälles bewusst, beide jedoch relativieren ihre Machtposition. „Alle Seiten gewinnen, wenn das Unternehmen gelingt“, meinte Beate Göbel; „Aus der Sicht der inhaftierten Frauen verkörperte das Projektteam sicherlich nicht die institutionelle Macht, allein schon die kumpelhafte Kommunikation bildete einen starken Kontrast zum Verhältnis Gefangene-Justizwachebeamte.“

Ähnlich sieht das Tina Leischs Partnerin Alma Hadzibeganovic: „Viele der Justizwachebeamten haben uns im besten Fall toleriert. Eher waren wir ein Störfaktor, und die Insassen, mit denen wir arbeiteten, konnten das wahrnehmen.“ Vielleicht konnten die Beamten spüren, dass Leischs Sympathie „tendenziell den Leuten hinter Gittern und ihren Opfern gehört, aber sicher nicht denen, die Erstere hinter Gitter gebracht haben, denn davon haben auch Letztere nichts“. Vier Absagen sprechen ja auch eine deutliche Sprache: In den Justizanstalten Sonnberg, Schwarzau, Stein a. d. Donau und St. Pölten war nicht möglich, was schließlich in der Jugend-Anstalt Gerasdorf realisiert werden konnte; erst hier fand Leisch die spontane Zustimmung der Anstaltsleiterin (und die Anfrage, ob das KünstlerInnenteam Bewachung erwünsche).

Dass die Schauspieler nach der viel umjubelten Premiere in Gerasdorf nicht an der Feier teilnehmen konnten, um die Früchte des freundlichen bis begeisterten Feedbacks zu ernten, sondern rasch in die Zellen zurück begleitet wurden, entbehrt nicht der Logik der Verhältnisse. Alles andere wäre Verstellung gewesen.

Informationen über weitere öffentlich zugängliche Aufführungen von „Date your Destiny“ unter Tel.-Nr.: 0 6991 942 22 09 oder augustine.leisch@gmx.at

Informationen über WIR_HIER, Frauenkunst unter Strafe: www.wirhier.at