Kurts Kampf gegen die SuchtHeroes

Ich bin Pole, ätzt der Tiroler, der ein Wiener ist

Neben den „Hauptsprachen“ im Augustinvolk – Wienerisch, Slowakisch, Rumänisch, Tschetschenisch nebst den diversen Sprachen Nigerias – vernimmt man vereinzelt auch Idiome, wie man sie von den österreichischen SchifahrerInnen kennt. Einer der „Tiroler“ beim Augustin ist aber in Wirklichkeit ein Wiener. Kurt Baumgartner, 1968 geboren, lebte 15 Jahre in Innsbruck. Seit rund zwei Monaten verkauft er die Wiener Straßenzeitung. Derzeit versucht er, im Therapiezentrum Ybbs seine Süchte zu besiegen.Als Kurt sechs Jahre alt war, starben die Eltern bei einem Autounfall. Alkohol war im Spiel. Auch sein Bruder starb ähnlich. Im Wienfluss, der für ein Fahrzeug voller Betrunkener zum Terminal im vollen Wortsinn wurde. „In meiner Familie drehte sich alles um den Alkohol“, erinnert sich unser erster Hero des neuen Jahres. Kurt wurde „Heimkind“. Würde der Augustin-Verein alle seine Heimkinder zu einem Heimkindertreffen einladen, wäre das VerkäuferInnenzentrum zu klein dafür. Seit seinem 14. Lebensjahr ist Kurt Baumgartner ein mehrfach Abhängiger. Was ihn unter den Schicksalsgenossen auszeichnet: Selbstreflexion, Ablehnung von Selbstbetrug, Offenheit im Gespräch über sein krankhaftes Verlangen nach Alkohol, Tabletten und Glückspiel.

Die Kochlehre brach er vor der Abschlussprüfung ab. Zur Finanzierung der Sucht verkaufte er alles, was er an persönlichem Eigentum besaß. Aus der Gemeindewohnung, die er nach dem Kinderheimaufenthalt bekam, wurde er bald delogiert. Zwei Jahre lebte Kurt auf dem Karlsplatz. „Die Karlsplatzszene war dann meine Familie. Dort fühlte ich mich am wohlsten, obwohl ich immer wieder von der Polizei aufgegriffen wurde.“ Sozialhilfe, Veruntreuungen, Diebstähle, Tablettendealen, prekäre Jobs und Schnorren zählten zu den Mitteln der Finanzierung der Abhängigkeiten. Die Flexibilität der Ausgestoßenen entspricht nicht ganz den Flexibiltäts-Anforderungen, die die Wirtschaftskammer an ihr Menschenmaterial stellt.

„Ich bin immer an gnädige Richter geraten, die meine familiären Verhältnisse in ihrem Urteil berücksichtigt haben“, schätzt Kurt ein. Beim Bundesheer-Zwischenspiel lernte Kurt, dass man noch mehr Bier in den Körper schütten kann, als er sich bisher vorstellen konnte. Würde der Augustin-Verein alle seine während des Präsenzdienstes zum Alkohol Bekehrten zu einem Soldatentreffen einladen, wäre das VerkäuferInnenzentrum zu klein dafür. Allein die Fahnenfluchtdelikte stigmatisierten den jungen Republikverteidiger Kurt Baumgartner zum mehrfach Vorbestraften und damit lebenslänglich zum Verdächtigen aus der Sicht jedes Personalmanagers.

Von der Innsbrucker zur Wiener Straßenzeitung

Auf dem Karlsplatz lernte Kurt einen Arzt des „Canisibusses“ kennen, einer von der Caritas betriebenen mobilen Versorgungsstelle für Straßenmenschen. Über ihn bekam Kurt einen Platz im Juca, dem Obdachlosenhaus der Caritas für unter 30-Jährige. Die Betreuer sahen über die laufenden Rückfälle hinweg, die ständig zu Hausordnungsverletzungen führten. Als Kurt 21 war, ließ er sich von einer Sozialarbeiterin zu einer Therapie in Innsbruck überreden.

In Innsbruck schien die Therapie, die in Wien nicht möglich war, gelungen zu sein. „Sieben Jahre war ich clean. Kein Alkohol, keine Tabletten, keine Spielsucht. Das Umfeld passte.“ Kurt konnte als Koch so viel verdienen, dass er seine damaligen Schulden – 400.000 Schilling – zurückzahlen konnte. Wegen Zerwürfnissen mit neuem Personal gab Kurt den Job auf, der unter seinen Bedingungen ein Traumjob war. Damit war auch die Wohnung weg, denn es war eine Dienstgarconniere. Die Beziehung ging ebenfalls in Scherben. Worin Kurt den Trost suchte, ist zu erraten. Wie von selbst stellte sich das Muster der teuflischen Dreifaltigkeit – Alkohol, Tabletten, Spiel – wieder her. Kurt kehrte nach Wien zurück, wo sich daran nichts änderte, außer in einigen Intervallen, die jeweils ein paar Wochen dauerten und in denen die Illusion gedieh, er könne sich aus eigenen Stücken aus den Abhängigkeiten befreien.

Als Langzeitarbeitsloser in Wien fand er keine andere Möglichkeit zu überleben als den Augustin. Den hatte er schon in Innsbruck kennen gelernt, wo er den „Zwanzger“ vertrieb, die Tiroler Straßenzeitung. Als Folge einer kriminellen Geldbeschaffungsaktion muss er 500 Euro im Monat an eine Geschädigte zurückzahlen, eine außergerichtliche Vereinbarung. Der größte Teil seines Arbeitslosengeldes ist damit blockiert. Ohne die Augustin-Einnahmen könne er sich legal nicht über Wasser halten, meint Kurt. Er bemühe sich, freundlich zu den Kunden zu sein, obwohl ihm das nicht immer leicht falle – speziell wenn er gefragt werde, ob er „eh ein Österreicher“ sei. In solchen Momenten fühle er sich zum pädagogischen „Vaterlandsverrat“ provoziert. „Ich bin Pole“, grinst er dann dem Inländerfreund entgegen. „Und wie soll ich damit umgehen, wenn ich acht Stunden in der Kälte stehe, um ein paar Zeitungen zu verkaufen, und dann kommt einer und faucht mich an: Geh arbeiten!?“ Augustin zu vertreiben sei eine härtere Arbeit als mancher andere Job. In Innsbruck habe er eine größere Toleranz gegenüber StraßenzeitungskolporteurInnen wahrnehmen können.

Die Security zerstörte das Clochard-Zelt

Viele Kollegen und Kolleginnen beim Augustin haben ähnliche Probleme wie Kurt. Nur wenige thematisieren sie so offen wie er. Der Suff und die Straße, das ist eine schwer trennbare Liaison. Den Suff und den Job sollten die Augustin-VerkäuferInnen aber schon zu trennen versuchen, meint Kurt. Wer im illuminierten Zustand verkauft, schade dem Image des Augustin. Dieses festzustellen sei nicht unkollegial. Die spießbürgerliche Empörung über Sandler, die ihre Einnahmen für den Alkoholkonsum verwenden, müsse zurückgewiesen werden. Jeder Gutsituierte gibt mehr Geld für gepflegte Weine aus, und niemand kümmert sich drum. „Aber die Kollegen sollten den Augustin-Ausweis abnehmen, wenn sie nur noch trinken“, kann Kurt eine Spur von Unverständnis nicht unterdrücken. Wirklich kein Verständnis habe er für die herrschende Doppelmoral: Was den „Anständigen“ beim Heurigen erlaubt sei, nämlich bis zum Umfallen zu saufen, ist in den Gesellschaften der sozialen Apartheit, dazu zählt für Kurt auch die österreichische, den Obdachlosen als einer der Minderheitsgruppen nicht gestattet.

Im Juca hatte Kurt Baumgartner nach seiner Rückkehr nach Wien erneut Unterschlupf gefunden, obwohl er schon gegen Mitte 30 zuging. „Hier zahlt man im Monat 170 Euro. Man kann dort höchstens eineinhalb Jahre bleiben. Die Voraussetzungen: Kein Alkohol! Keine Drogen! Ich habe die Hausordnung oft brechen müssen. Entweder ich blieb die Miete schuldig oder ich kam besoffen ins Heim. Oder ich habe die so genannten Sozialtermine nicht eingehalten, die Vorladungen zum Sozialarbeiter. Natürlich ist man bei den ersten Regelverstößen nicht gleich so streng, aber ich habe das Maß eindeutig überschritten. Außerdem war ich ohnehin zu alt für die Juca: 35 Jahre. Als sie sagten, ich müsse raus, protestierte ich nicht dagegen. Ich fand es verständlich.“

Auch andere Wohnungsloseneinrichtungen hätten mich hinausgeworfen, meint Kurt. Denn aufgrund seiner Geld verschlingenden Süchte könne er oft nicht einmal die relativ „christlichen“ Monatsbeiträge zahlen, die in diesen Heimen vorgeschrieben sind. Kurt zog die Konsequenz und ins Zelt, auf die Donauinsel. Was er dort erlebte, könnte eine dritte Seite füllen. Mitglieder von Security-Teams zerstörten mit Messerschnitten das Zelt des Clochards. „Sie haben dazu nicht das Recht, aber sie wissen, dass es keine Kläger gibt. Denn die potenziellen Kläger sind ja selbst im Unrecht. Sie campieren, wo kein Campingplatz ist.“

Die Proklamation des „Rechts auf Schlaf“

Die Donauinsel-Erlebnisse haben Kurt Baumgartner ins Grübeln gebracht. Das Grübeln werde in einen Beitrag für den Augustin über das „Recht auf Schlaf“ münden. Er möchte recherchieren, ob es eine gesetzliche Basis dafür gebe, dass der Schlaf von Obdachlosen im öffentlichen Raum täglich durch ungezählte Amtshandlungen unterbrochen oder beendigt werde. Oder dafür, dass man als Alkoholkranker nicht einmal in einem Notasyl schlafen dürfe. „Jeder Mensch wird einmal müde“, eine banale Feststellung, die in ihrer Allgemeinheit auch den Säufer und die Säuferin einschließen müsse. Warum aber respektieren weder die Polizei noch die Trägerorganisation der Wohnungslosenhäuser die Müdigkeit von unsereins? Dürfen nur bestimmte soziale Schichten müde sein, lautet Kurts Fragestellung, die in ihrer „Naivität“ entwaffnend wirkt. „Jeder kann in der Gruft (Obdachlosenasyl der Caritas – die Red.) schlafen, das hört man allgemein. Dass man aber diesen Notschlafplatz nur mit null Promille sicher hat, wissen wenige. Und wenn sie es wissen, finden sie es okay. Warum eigentlich? Wird irgendein Normalbürger aus seiner Wohnung ausgesperrt, weil er mit zwei Promille nachhause kommt?“

Wenn man auf der Donauinsel nicht schlafen dürfe, dann sei dieses Stadtgebiet kein öffentlicher Raum. Wenn es aber kein öffentlicher Raum sei, könne es nur Privatgrund sein. Aber wer ist der private Eigentümer der Donauinsel? Mit solchen ungeläufigen Fragen will Kurt im Augustin bewusstseinsbildend wirken.

Zurzeit des Augustin-Gesprächs lebte Kurt im Obdachlosenheim Gfrornergasse. Dort schlief er, weil er die Anmeldung zu einer Therapie vorweisen konnte, im so genannten Langzeitnotquartier, wofür man keine Miete verlangt.

„Ich weiß, dass ich mein Leben wieder in den Griff bekommen kann, wie damals in der Innsbrucker Phase“, sagt Kurt Baumgartner.

Manche KollegInnen hätten an dieser Stelle behauptet: „Ich krieg mein Leben wieder in den Griff.“ Und andere: „Ich hab mein Leben im Griff.“ Denn neben den vielen Sprachen sind im Augustinvolk auch viele Formen der Selbsthintergehung en vogue. Wieder andere sind wie Kurt. Und wieder andere haben es tatsächlich schon geschafft.

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