«Lachen, lieben, laufen, lernen»vorstadt

Ein Platz für alle, weil Fußball verbindet: SC Wiener Viktoria

Der SC Wiener Viktoria ist ein etwas anderer Fußballverein, und das nicht nur, weil Toni Polster die Kampfmannschaft trainiert, sondern auch, weil der Klub einen Sozialverein unterhält. Wenzel Müller (Text und Fotos) sprach mit dem vormaligen Präsidenten und jetzigen Ehrenpräsidenten des Meidlinger Vereins, dem Psychiater und Psychotherapeuten Univ. Prof. Dr. Otto Lesch.Herr Prof. Lesch, Sie sind Ehrenpräsident des SC Wiener Viktoria. Wie dürfen wir uns Ihre Arbeit vorstellen?

In erster Linie kümmere ich mich um den Sozialverein, den wir vor mehr als zehn Jahren dem Fußballklub angegliedert haben. Mit diesem Verein wollen wir insbesondere Leuten helfen, die sonst keine Hilfe bekommen. Wir unterstützen etwa Menschen, die ihre Miete nicht mehr bezahlen können und von Delogierung bedroht sind. Oder um ein anderes Beispiel zu nennen: Im Augenblick helfen wir einem Mann, der vor die U-Bahn gefallen ist und dabei beide Beine verloren hat. Ein Ausländer, ohne Krankenversicherung, nicht anspruchsberechtigt. Wir haben, zusammen mit dem neunerhaus, uns dafür eingesetzt, dass er einen Alkoholentzug machen konnte und nun Prothesen bekommt.

Was hat dieses Engagement mit Fußball zu tun?

Der soziale Gedanke ist uns im Verein sehr wichtig. Hier in Meidling wachsen viele Jugendliche in schwierigen familiären Verhältnissen auf. Namentlich für diese Jugendlichen wollen wir ein Sammelbecken sein. Wir möchten ihnen das bieten, was sie zu Hause oft genug nicht bekommen: Geborgenheit. Es geht uns nicht um Therapie, sondern ein familiäres Setting. Wir schicken keinen Jugendlichen weg, der zu uns kommt, sei er als Fußballer auch noch so untalentiert. Je nach Begabung teilen wir die jungen Spieler unterschiedlichen Leistungsstufen zu. Es spielt für uns also keine Rolle, wie jemand Fußball spielt. Wichtig ist uns vielmehr, dass er einen Platz findet, bei uns und überhaupt in der Gesellschaft. Sich gut in einer Gruppe aufgehoben fühlen, das zeigen Langzeitstudien, ist einer der stärksten Gesundheitsfaktoren überhaupt, wichtiger als der Blutdruck- oder der Cholesterinwert. Sozialarbeit bedeutet, so rasch wie möglich reale soziale Hilfen anzubieten und nicht nur Probleme zu besprechen und wieder zu besprechen – und in Wirklichkeit keine Lösungsvorschläge zu haben. Ganz aktuell: Das Problem Praterstern ist mit Verboten nicht zu verbessern, und Sozialarbeiter_innen nützen nur, wenn sie entsprechende Ressourcen haben.

Erst unlängst hat der frühere deutsche Nationalspieler Peer Mertesacker durch sein Geständnis in einem Spiegel-Interview für Aufsehen gesorgt, er habe sich vor jedem Spiel erbrechen müssen, so stark sei inzwischen der Druck in der Branche.

Gewiss kein Einzelfall im Profigeschäft. Und überhaupt in Berufen, wo die Menschen im Rampenlicht stehen. Nicht nur im Sport, sondern überall, wo Spitzenleistungen verlangt werden, so beispielsweise auch in der Musik, gibt es Betroffene, die vor Auftritten ähnlich reagieren. Es ist nicht zuletzt eine Mentalitätsfrage: Die einen kollabieren unter Druck, andere gelangen durch ihn erst zur Höchstform.


Es war auch unlängst ein Artikel im Lancet, wo es hieß: Fußball ist gesünder als Joggen. Das steht immerhin in einem der renommiertesten Wissenschaftsmagazine!

Beim Fußball lernen die Jugendlichen, sich in einer Gruppe unterzuordnen. Nur wenn die Mannschaft zusammenhält, hat sie auch Erfolg. So Dinge wie Neid oder Rache haben hier nichts verloren. Die jungen Spieler lernen, mit Aggressionen lösungsorientiert umzugehen. Und nicht zuletzt auch Niederlagen zu verarbeiten – alles Fakten, die sie gut fürs Leben gebrauchen können.

Lachen, lieben, laufen, lernen – diese vier ‹L› sind unser Credo. Wir möchten unseren jungen Vögeln das Fliegen beibringen, sie dabei unterstützen, ein gesundes Selbstwertgefühl auszubilden. Handlungen jeder Art, die andere Personen entwerten, sollten unbedingt vermieden werden.


Und das funktioniert? Finden Ihre Jugendlichen über das Fußballspiel zu Stärke und Reife?

Ich habe einen von unseren jungen Spielern vor Augen. Als er zu uns kam, lief er ganz schief und hatte den Blick immer auf den Boden gerichtet. Und jetzt, nur zwei Monate später, springt er munter herum. So etwas zu erleben ist eine große Freude.

Welche herrliche Sache der Rückhalt einer Mannschaft sein kann, kann ich aus eigener Erfahrung bestätigen. Mit 19 Jahren wurde ich das erste Mal Vater. Ich zog mit meiner Familie nach Wien in eine WG, und in der ersten Zeit hatten wir keinen Groschen Geld. Wer uns beim Ausmalen und Einrichten der Wohnung geholfen hat, das waren meine alten Fußballfreunde. Auf die war Verlass, jederzeit. Eine Form gelebter Solidarität, die heute immer mehr im Verschwinden ist.


Sie haben pro mente, die Gesellschaft für soziale und psychische Gesundheit, deutlich weiterentwickelt und waren am Aufbau des Anton-Proksch-Instituts entscheidend beteiligt. Dafür sind Sie bekannt. Weniger bekannt ist Ihre Karriere als Fußballer. Wie sah die aus?

Ich bin in einer großen Familie aufgewachsen, mit acht Kindern. Mein Vater war praktischer Arzt und Obmann des FC Enzesfeld-Hirtenberg. Dort begann ich mit dem Fußballspielen, als Linksverbinder, wie das damals hieß, heute würde man sagen: offensiver Mittelfeldspieler. Mit der Mannschaft wurde ich niederösterreichischer Meister. Mitte der 1960er-Jahre kam ich nach Wien und wurde zum Fußballzigeuner: spielte unter anderem beim Hütteldorfer AC, beim Brigittenauer AC, bei der Wiener Viktoria, und mit 38 Jahren hörte ich bei 1980 Wien auf. Mit dem Fußballspiel verdiente ich Geld. Wenn wir nicht gewannen, gab es am Wochenende keine Burenwurst. Ich weiß, wie es ist, ohne Geld auskommen zu müssen. Einmal, als ich sehr in Not war, gab mir ein Freund 100.000 Schilling, um Schulden zu begleichen. Einfach so, dabei wusste er genau, ich würde es ihm in den nächsten drei, vier Jahren nicht zurückzahlen können. Heute habe ich eine ordentliche Pension, ich brauche kein Zusatzeinkommen, und so lasse ich die Honorare, die ich für meine Vorträge erhalte, auf das Konto unseres Sozialvereins überweisen.

Ihr Sozialverein bietet unter anderem Deutsch-Kurse an, hat also regelmäßige Ausgaben. Wie finanziert er sich?

Ausschließlich über Spenden. Förderungen sind üblicherweise an Regeln gebunden, daher verzichten wir auf sie. Unsere Unabhängigkeit ist uns wichtig! Im Winter öffnen wir unsere Umkleidekabinen für bedürftige Obdachlose, in Zusammenarbeit mit der VinziRast. Und jeder und jede darf kommen, einerlei, ob allein oder mit Hund oder Partner, ob nüchtern oder betrunken. Von diesem Grundsatz wollen wir auch in Zukunft nicht abgehen. In einem Wiener Obdachlosenheim wurde das Alkoholverbot aufgehoben, und dies führte zu einer deutlichen Verbesserung im Klima und im Gesundheitszustand der betroffenen Obdachlosen.

Ein Universitätsprofessor engagiert sich in einem Fußballverein. Das ist nicht gerade alltäglich.

Als Sozialpsychiater hatte ich schon an der Universität eine Art Sonderstatus inne. Heute zählt in der Medizin nämlich nur noch das biologische Modell. Demnach ist etwa das gaba-, dopamin- oder serotonerge System und ihr Zusammenspiel dafür verantwortlich, ob jemand Freude empfindet oder nicht. Für mich der reine Schwachsinn! Als käme es nur darauf an, wie gut die Ionenöffnung einer Zelle funktioniert, und als würden gesellschaftliche Verhältnisse überhaupt keine Rolle spielen!