Die Performer:innen von MellowYellow laden Schüler:innen ein, sich selbstbewusst auf den Ausdruck ihrer Körper einzulassen. Mit oder ohne Behinderung – das ist beim Tanzen nebensächlich.
Die Stimme von Aretha Franklin füllt den Turnsaal, in der Mitte des Saals steht Frans Poelstra und tänzelt zur Melodie. Mit seinen Händen lockt er die Schüler:innen der 6. Schulstufe der Mittelschule in der Anton-Sattler-Gasse, es ihm gleich zu tun und mit ihm Tanzschritte zu improvisieren beziehungsweise die seinen zu spiegeln. Noch sitzen die durchschnittlich Zwölfjährigen etwas verhalten vor ihm am Boden, schließlich steht kichernd ein Bub auf, um wie vorgeschlagen mit einem imaginären Ball zu spielen und so in eine tänzerische Bewegung zu finden. Dann rollt Adil Embaby mit dem Rollstuhl heran und übernimmt als Frans’ Partner den zweiten Part in der kurzen Performance. «Informance» nennen die beiden dieses Herantasten und bewegte Erklären, was ein künstlerischer körperlicher Ausdruck sein kann, wie sie selbst zum Tanz gefunden haben – und dass man wie Adil mit einer Behinderung Tänzer sein kann.
Mit acht Jahren hat Adil zu tanzen begonnen, lange mit einem Bein, ehe er auch das verlor; dann wurde der Rollstuhl zu einer Erweiterung des Körpers auf der Bühne, er studierte an der Musik- und Kunst-Privatuniversität der Stadt Wien zeitgenössische Tanzpädagogik und tritt etwa im Ensemble von Doris Uhlich auf.
«Wisst ihr, was Contemporary-Tanz ist?», fragt er die Schüler:innen im Turnsaal und führt gleich ein paar Moves vor. Dann ist Frans an der Reihe, der zur Musik veranschaulicht, wie er vom auf der Straße spielenden Kind zum Performer von heute wurde, der derzeit unter anderem beim ImPulsTanz-Festival beteiligt ist. Es ist eine erste Anregung für die Klasse, dass zusammen tanzen mit oder ohne Behinderung möglich und bereichernd ist. Im Laufe des Tages bemühen sich Adil und Frans, noch mehrere lustvolle Anregungen folgen zu lassen. Sie stellen eines der Mixed-Abled-Teams von MellowYellow, einem Kunstprojekt für Kinder und Jugendliche, die an Schulen kommen, um über die Mittel der Kunst für Inklusion und einen selbstverständlichen Umgang mit Behinderungen einzutreten.
Fragen und tanzen lernen
Sowohl Adil als auch Frans sind regelmäßig in unterschiedlichen MellowYellow-Zweierteams unterwegs: Die Formen der Beeinträchtigungen der Teammitglieder sind ebenso vielfältig wie die Schulen, die sie besuchen, sowie die Altersstufen, für die ein Projekttag infrage kommt, berichten sie. Wenige Wochen vor dem Workshop mit der Integrationsklasse in der Anton-Sattler-Gasse hat Adil so auch gemeinsam mit Silke Grabinger im BRG9 Erich Fried Realgymnasium einen Aktionstag abgehalten – Hip-Hop-lastig, da ihn mit Grabinger die Leidenschaft zu diesem Tanzstil verbindet. Nach der Informance folgen gemeinsames Aufwärmen und Improvisieren. Dazu dienen Spiele: Von der Sprossenleiter auf der einen Saalseite starten abwechselnd und zunehmend unerschrocken Jugendliche zur Leiter auf der anderen Seite los, dazwischen erfundene Tanzschritte trippelnd, die anderen machen es nach. An dem Aktionstag soll keine Bewegung «blöd» erscheinen, genauso wie in Theorieblöcken und Fragerunden zwischendurch keine Frage «dumm» ist, wie Adil nicht müde wird zu betonen. Die ersten scheuen, dann direkten Fragen lassen nicht lange auf sich warten. Wie fährt man mit dem Rollstuhl bergauf? Darf man betrunken Rollstuhl fahren? Und: Warum hast du keine Beine mehr?
Man lerne in der Gesellschaft möglichst nicht nachzufragen, meint Adil, der gerne auch vermeintlich Taktloses aus den Klassen herauskitzelt. Er sehe im Alltag viele, die auch im Erwachsenenalter noch keinen persönlichen Kontakt mit Rollstuhlfahrer:innen geknüpft hätten. Mit den Aktionstagen wollen die Teams Vorurteile widerlegen beziehungsweise gar nicht erst aufkommen lassen, indem schon mit Kindern aktiv Berührungspunkte zu einem breiten Spektrum an Behinderungen hergestellt werden. Wobei MellowYellow für gewöhnlich mit einem Überraschungseffekt arbeitet: Die körperlichen Einschränkungen in den Mixed-Abled-Teams werden vorab nicht an die Schüler:innen kommuniziert, sondern erst bei Workshopbeginn sichtbar.
«Es soll auf keinen Fall als inklusives Projekt angekündigt werden», so Anna Gasser von MellowYellow, hinter dem der Trägerverein MAD steht. Dieser hat sich die Aufgabe gesetzt, eine gesellschaftspolitische Veränderung durch künstlerisches Tun zu initiieren. «Die Kunst steht im Vordergrund, die Inklusion kommt mit», sagt Anna, die Adils und Silkes Aktionstag im BRG9 begleitet. Mit der Lehrerin kommuniziert sie im Vorhinein Details, die Klasse selbst weiß nur, dass sie ein Tanzworkshop erwartet. Ein Ziel dahinter: «Eine als selbstverständlich erlebte Begegnung auf Augenhöhe», so Anna, die neben dem künstlerischen Fokus jenen auf Mixed-Abled als zentral hervorhebt: Eine inklusive Situation im Kleinen, die idealerweise auch in der Gesellschaft im Großen stattfinde. In Regelschulen gebe es wenige inklusive Klassen, Kinder mit körperlicher Behinderung würden in Sonderschulen wie die Währinger Hans Radl Schule gesteckt. Ein Grund, warum die Initiative MellowYellow sich derzeit ausbreitet. Seit diesem Schuljahr gibt es mehr Aktionstage, mehr künstlerische Teams und von Wien aus eine Ausweitung in die Bundesländer Niederösterreich und Burgenland. Auch Gymnasien wie das BRG9 sind zunehmend dabei. Pflichtschulen können über das Jahreskontingent der Wiener Bildungschancen kostenlos einen Aktionstag buchen.
Nachwirken lassen
Was genau an dem Tag passiert, wissen meist auch die Performenden selbst nicht. Das Ganztagesprojekt braucht nicht nur Zeit, sondern auch den Willen von allen, sich auf Ungewohntes einzulassen. «Wir kommen mit einem Baukasten an Elementen», sagt Adil, vieles hänge dann aber von der Klassenkonstellation ab. Im BRG9 ließen er und Silke auf das Improvisieren ein Rollstuhlwettrennen folgen, in der Mittagspause durfte die Klasse mit den Rollstühlen weiterfahren. Auch in der Kagraner Mittelschule in der Anton-Sattler-Gasse düsen die Schüler:innen nach einiger Zeit mit Rollstühlen herum. «Wir haben leider nicht so viel Raum, wo die Kinder aus sich herauskönnen», schildert die Co-Klassenlehrerin Sara Khattab. «Ich finde es auch wichtig, dass sie sehen, dass Behinderung kein Hindernis ist, sondern dass alles möglich ist.» Die Inklusionsklasse sei schon zuvor mit dem Thema konfrontiert gewesen, den Aktionstag hätten sie vor allem auch mit dem Wunsch gebucht, mehr aktives Teambuilding zu probieren.
Wie kann man einander unterstützen? Wie die eigene Blase verlassen und sich einander annähern? «Es gibt weniger Unterschiede, als wir denken, das ist ein wichtiges Thema im Leben», meint Frans. Nach der Mittagspause bitten er und Adil die Klasse, sich in Kleingruppen aufzuteilen und eine eigene Performance zu entwickeln. «Ihr könnt euch entscheiden, ein Tanz oder eine Geschichte», regt Frans an. Der Rollstuhl soll vorkommen. Manche setzen sich verkehrt herum hinein, andere zerlegen ihren, bald performen die Schüler:innen ihre Kurzstücke zu selbst ausgesuchter Musik. «Das Licht geht aus, der Vorhang auf, viel Spaß!», imaginiert Adil prompt eine Bühne herbei.
Am Ende des Tages fragen er und Frans in einem Abschlusskreis nach: Wie wäre es, den ganzen Tag im Rollstuhl zu sein? Vermutlich anstrengend, erwidert eine Schülerin. Der Aktionstag habe Spaß gemacht, so der Tenor, doch so ganz aus sich raus kamen sie an diesem Tag nicht. «Die Erlebnisse arbeiten innerlich nach», ist sich Adil sicher. Zu den MellowYellow-Tagen gehören stets mit einigem zeitlichem Abstand Resonanztreffen mit den teilnehmenden Klassen. Die BRG9 hatte ihres bereits. Auch dann sind Fragen, Spiele und Performances am Programm. Und vor allem eines konnte die anwesende Lehrerin Margit Grabmayr-Schönbauer am Ende beobachten: «Es ist irgendwann wirklich ganz egal, dass Adil im Rollstuhl sitzt.»