Reinhard Kleists Comic «Der Traum von Olympia»
Nachrichten von Hunderten, ja Aberhunderten von Flüchtlingen, die ihr Leben im Mittelmeer verlieren, lassen uns vergleichsweise kalt. Eine einzelne Geschichte erschüttert uns, berührt uns, lässt uns nicht mehr los. Martin Reiterer erklärt, warum Reinhard Kleists Comic-Geschichte von Samia Yusuf Omar so eminent wichtig ist.
Grafik: Reinhard Kleist
2008 wird die Somalierin zu den Olympischen Spielen nach Peking eingeladen. Sie ist 17 Jahre alt. Und obwohl sie bei dem 200-Meter-Lauf als Letzte ins Ziel läuft, wird sie als geheime Heldin gefeiert. In Peking, und erst recht zu Hause, in Mogadischu. Hier allerdings nur in engeren Kreisen, denn in der Hauptstadt Somalias breitet sich gerade erneut die al-Shabaab aus, eine militante islamistische Bewegung. Ihre extremistische Auslegung der Scharia verbietet es unter anderem Frauen und Mädchen zu laufen, das sei unanständig. Als Samia aus Peking zurückkehrt, wird sie auf der Straße verwarnt, später erhält sie Drohungen per SMS: «Wir wissen, wo du wohnst, morgen bringen wir dich um.» Ihr Vater wurde im Bürgerkrieg getötet, ihre Schwester ist nach Helsinki geflohen, von wo aus sie die Familie finanziell unterstützt. Zusammen mit ihrer Mutter sorgt sich Samia um die Kinder ihrer Schwester.
Doch die Läuferin hegt auch ein anderes Ziel: 2012 möchte sie an den Olympischen Spielen in London teilnehmen – und gewinnen. Wie soll sie sich in einem vom Bürgerkrieg zerrütteten Land darauf vorbereiten? Schießereien gehören hier zum Alltag. Das Stadion, in dem sie trainiert, ist eine Ruine, früher haben hier Hinrichtungen stattgefunden. Granatenlöcher erschweren das Training, die Zeit wird ohne Stoppuhr, durch Abzählen ermittelt, es fehlt an fast allem, nicht aber an der Motivation der jungen tapferen Sportlerin.
Wenn sie dieses Ziel erreichen möchte, muss sie ihr Land verlassen. Eine Möglichkeit tut sich auf: In Addis Abeba, wo ihre Tante arbeitet, könnte sie an einem Trainingsprogramm teilnehmen. Schließlich erfleht sie von ihrer Mutter die Erlaubnis und begibt sich in die äthiopische Hauptstadt. Doch der Plan geht nicht auf, aus dem Training in Addis Abeba wird nichts, nicht zuletzt weil Samia eine Frau ist. Zusammen mit ihrer Tante beschließt sie die Flucht nach Europa. In Italien, träumt sie, könnte sie mit Hilfe ihrer Sponsoren ein Training erhalten. Ein Jahr lang ist Samia Yusuf Omar auf der Flucht, und dann geschieht das Unfassbare: Sie kommt nicht an, sie ertrinkt im Mittelmeer zwischen Libyen und Italien.
Mit großem Feingefühl erzählt Kleist diese bittere Geschichte eines zerstörten Traums. Da Samia während ihrer Flucht über Facebook mit ihrer Familie und ihren Freunden in Verbindung blieb, lassen sich Etappen ihrer Flucht rekonstruieren, auch wenn Einzelheiten für immer im Dunklen bleiben werden. Samias Fluchtweg führte von Addis Abeba über Khartum nach Tripolis, das sie 2011 inmitten des libyschen Bürgerkriegs erreicht. Der expressionistische Zeichenstrich, der zu Recht nicht realistisch bis ins Detail ist, vermittelt auf beeindruckende Weise die Atmosphäre zwischen Entschlossenheit und Angst, zwischen ständiger Aufmerksamkeit und rasant zunehmendem Ausgeliefertsein. Das Ausmaß an Ungewissheit, Risiken, Erpressbarkeit, dem Flüchtlinge sich aussetzen, sobald sie ihr Geld aus der Hand gegeben haben, macht Kleist – in wenigen Zügen – lediglich erahnbar. Spuren des Todes, die die Schlepperrouten säumen, erinnern die noch Lebenden an die Flüchtigkeit ihrer Existenz. Reduzierte Bilder, die das Ganze und das ganze Unfassbare aus der Distanz betrachten, regen zum Nachdenken an: die riesige Staubwolke eines durch die Wüste fahrenden, mit Menschen überfüllten Lastautos und deren Schatten, ein im grenzenlosen Meer verschwindender Punkt, der ein mit Menschen überfrachtetes Schlauchboot darstellt.
Dorthin gehen, wo die Fische jetzt sind
Doch Kleist lässt auch Flüchtlinge, die mit Samia unterwegs sind, von ihren Beweggründen erzählen. Wie den Fischer aus Somaliland, der vom Fischfang nicht mehr leben kann: «Die Netze bleiben leer, seitdem die großen Schiffe aus Europa alles fangen. / Also gehe ich dahin, wo die Fische hingehen!» In diesem Satz steckt der offene Widerspruch der europäischen Asylpolitik, ihre Doppelmoral, über die in all den Diskussionen zum Asylproblem so beflissen geschwiegen wird. Während EU-Europa und seine nationalstaatlichen Minister_innen gerne Bekenntnisse ablegen, wie sehr ihnen das wirtschaftliche Vorankommen der Herkunftsländer von Flüchtlingen am Herzen liege, bleiben EU-Gesetze und europäische Wirtschaftspolitik, die etwa afrikanische Märkte schädigen und sogar zerstören, unangetastet.
Einen weiteren Aspekt spricht Kleist im Vorwort an: Er betrifft den Umgang Europas mit den (sogenannten illegalen) Flüchtlingen, wie er insbesondere im Süden gepflegt und vom Norden geduldet wird. Das reicht «bis hin zu regelrechter Sklaverei, der wir im restlichen Teil Europas unter anderem auch unser preiswertes Obst- und Gemüseangebot zu verdanken haben.» Ein erschreckender Zusammenhang, den übrigens ein finnischer Zeichenkollege von Kleist, Ville Tietäväinen, letztens in seinem gut recherchierten, eindrucksvollen Comic, «Unsichtbare Hände» (2014), anschaulich dargestellt hat.
Auch wenn «Der Traum von Olympia» in erster Linie eine einfühlsame Geschichte der Läuferin Samia Yusuf Omar ist, ihre Geschichte steht für eine unermessliche Zahl von Flüchtlingsschicksalen, und Kleists Comic versteht sich als Aufruf an die Verantwortung Europas und von uns Europäer_innen.
Info:
Reinhard Kleist: Der Traum von Olympia. Die Geschichte von Samia Yusuf Omar. Carlsen Verlag: Hamburg, 2015