Leben am Friedhof. Oder Geister mit AussichtDichter Innenteil

Am Küchentisch

Sie glauben doch nicht an Geister? Nicht nur das Zimmer von Traude Veran hat Aussicht auf die Gräber unten im Innenhof, auch umgekehrt, die Toten haben eines nach oben! Glauben Sie uns, Traude und ich, wir sprechen über Geister, jüdische Geister aus dem 16. Jahrhundert, die aufsteigen und zu uns sprechen, durch den morschen Friedhofsgarten umrandet vom Senior_innenheim in der Rossau, die Ahnengebeine tief verteilt, sehr tief vergraben, unter kunstvoll gemeißelten 400 Jahre alten Steinen.

Was bis vor einigen Jahren nur wenige Menschen, Wiener, Juden, interessiert hat, das, was ich im Laufe meiner Recherchen für die Produktion Familientisch, durch die Wiener Festwochen und dem Schauspielhaus, mit Spürsinn damals neu entdeckt hatte, dem bist du weit vorher schon nachgegangen, mit sensiblem Gespür und Können als Literatin, zum Wiedererwecken, zum Aufwecken der Geschichte. Daraus wurde dein wunderbares Buch, das im Mandelbaum Verlag erschienen ist: «Das steinerne Archiv, der jüdische Friedhof Rossau». Letztendlich hat das Aufwecken ein wenig genützt. Der Stadt Wien dürfte die prekäre Substanz der Gräbersteine in den jüdischen Friedhöfen Wiens aufgefallen sein. Man hofft weiter auf Restaurierung der historischen Steine! Derer gibt es Unzählige. Mahnmale. Verfallen. Erzählt ihnen das was? Und hier, wo du mich gerade hinführst, zu deinem Lieblingsstein, ja fast schon Schrein möchte ich sagen, stehst du mit zartem Lächeln und erzählst mir die Geschichte zweier Schwestern, die verehelicht werden sollten, damals schon mit 13, 14 Jahren, vorher aber an einer Seuche starben Pest, Cholera? Danach streifen wir durch die von mir gefürchteten Gänge und Lifte im Altenheim, das ich durch meine Performance so gut kenne, wo Alte, Depressive, Kranke herumwarten, sitzen, starren, alleine gelassen, ja, verlassen und so leblos, scheint mir, und ausgerechnet du bist hier, das ist mir ein Rätsel. Du löst es, sprichst von deiner Vermieterin, die wollte dich einst aus der Wohnung raus haben, du hattest für Protest keine Nerven mehr und suchtest Ruhe. So bist du hier. Hast deinen Platz hier gefunden, und ich fahre heute am Sonntag also mit dem Aufzug wieder einmal zu dir, und diesmal komme ich besser zurecht mit der Tatsache, dass Menschen hier leben, die alten Gräber täglich vor Augen, unaufhaltsam rückt auch meine Zeit voran, denke ich, wir essen zu Mittag, der Kaiserinnenschmarren schmeckt alt und trocken, wir setzen uns auf die Terrasse, daneben gleich die Gebeine unter der Erde. Mittags-Schmarren am jüdischen Friedhof. Ist es nicht verrückt, mechulle?

«Wir reden über die alten Linken»

Ich betrete dein äußerst bescheidenes Heim, dein Wohn-Schlafzimmer mit Blick auf die Gräber. Auf dem Tisch fällt mir gleich das Buch «Feindbilder» von Sibylle Wagner auf. Wir sind schon mitten im Thema, du bist immer noch dran, wir reden über die alten Linken, die du in deinen Dialektdichterinnen-Zirkeln triffst und die deiner Meinung nach feiern, rauchen und trinken, aber tun das nicht alle anderen auch?

Seid deiner Frühpensionierung als Sozialarbeiterin und Psychologin schon so früh mit 55 Jahren, widmest du dich ausgiebig der Lyrik und der Literatur, vorher warst du als Initiatorin der Integrationsbewegung im Burgenland mitbestimmend, eine Pionierin, um behinderte Kinder, wie du es formulierst, nicht im Abseits zu parken, denn so war es, erfassen, markieren, wegstellen, abgrenzen. Das Rad der Wiederholungen der Unmenschlichkeiten. Empört Euch! Grausamkeit muss erkannt und jede Generation muss darauf hinweisen. Ein Akt der Balance, zwischen Warten und Taten, zwischen Frieden und Gewalt. Wie weiter? Wir schlendern die Lichtensteinstraße im heißen Lüfterl entlang, um eine Ausstellung eines jungen Fotografen in einem leeren Lokal anzusehen, Ecke Harmoniegasse und Liechtensteinstraße, noch miefend nach Alkohol, Zigaretten. Die Bilder des Künstlers fokussieren die soziale Not in uns und um uns herum. Ich erzähle von utopischen Filmen, von Terry Gilliams Film «Brazil», und dass ich einst glaubte, diese Zustände in ferner Zukunft zu erahnen. Traude, du lachst und wirfst den Kopf nach hinten. Wir verstehen uns.

Der Alsergrund ist dein Zuhause, das merke ich, wenn ich mit dir durch die Straßen gehe, an vielen Hauseingängen bleiben wir stehen, und du erzählst mir eine dazugehörige Geschichte und historische Details. Schade, dass du keine Führungen machst, denn die Feinheiten zu erkennen und in Zusammenhang zu bringen, das webt ein Netz über den Neunten, da wird der Bezirk dann zum Dorf, die Synergien werden sichtbar.

Liebe Traude, ich setze hier unüblich den Text einer anderen Autorin ein, der aber besser nicht sein könnte. Er ist von Negar Roubani und steht auf der Seite von www.alterskompetenzen.info: « Durch deine Brille mit dem Goldrand liest du die Zeit. Den Teddy an deinem Rucksack hast du wohl von deinem Enkel, alte Frau. Du bist nervig, alte Frau, weil du mich interessierst. Ich will dich küssen, alte Frau, auf die Lippen. Wie dein Liebhaber. Ich will deinen fetten Körper an mich drücken. Ich liebe dich, alte Frau »

 

«Ein Kind vom Alsergrund»

Ein Film von Tobias und Simeon Macke über T. Veran.

16. 9., 19 Uhr

Bezirksmuseum Alsergrund

Währinger Straße 43, 1090 Wien

Eintritt frei

 

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