Leben im Durchhausvorstadt

Durchhäuser bieten Ruhe abseits des Großstadttreibens, und doch herrscht in ihnen ständige Bewegung. Sie sind auch Orte des Aufeinandertreffens unterschiedlichster Menschen. Ein Streifzug durch diese Öffnungen der Stadt.

TEXT & FOTOS: SUSI MAYER

«Machen Sie mal einfach die ­Augen zu und lauschen Sie den Geräuschen! Das geschäftige Treiben, die Gespräche.» Oliver Schürer dreht sich mit geschlossenen Augen und ausgestreckten Armen im «Freiwilligen Durchgang» zwischen Lerchenfelder Straße und Neustiftgasse im Kreis. «Und jetzt machen Sie die Augen wieder auf und sehen sich um! So hat Wien vor 200 Jahren ausgesehen.» Schürer ist Architekturtheoretiker an der TU und Bewegungsforscher. Zu Durchhäusern befragt präsentiert er zwei Beispiele, die nur einen Steinwurf voneinander entfernt sind, aber unterschiedlicher nicht sein können. Das erste ist die eben angesprochene Schottenpassage mit lauschigen Weinlauben, Pflastersteinen und engen Torbögen. Eingesäumt wird der Innenhof von verträumten Pawlatschen (vom tschechischen pavlač für Loggia oder überdachter Balkon), die das Begehen der Wohnungen nur über die Galerie ermöglichen. Sebastian Schwarz betreibt im Durchhaus eine vegane Bäckerei. Mit den Citybikers von gegenüber komme er gut aus, die Anwohner:innen kenne er aber kaum. Die Pawlatschen werden seinem Empfinden nach eher für Airbnb genutzt, es herrsche ein Kommen und Gehen.
Das zweite Durchhaus, das Architekturtheoretiker Schürer vorstellt, ist nur eine Straße weiter. Der Adlerhof verbindet als geradliniger, cleaner Schlauch Burggasse und Siebensterngasse. Schürer gefällt der Adlerhof, weil er so einfach und wenig speziell daherkommt. «Aber nur auf den ersten Blick!», denn hier reihen sich Durchhaus und Innenhof so aneinander, dass sie geradezu eine Tonfolge erschaffen: «Tak, Taaak, Taaak. Schatten, Licht, Licht, sehen Sie? Beim Durchgehen entsteht eine richtige Melodie!»
Durchhäuser sind Abkürzungen durch Häuserblocks oder Wohnanlagen. Sie sind praktisch, schön oder hässlich. Fancy Touri-Hotspots oder ein bisserl grindig, vielleicht sogar versifft. Was ihnen allen gemein ist – sie sind ein meist ­ruhiger Gegenpol zum geschäftigen Stadtleben, schaffen aber gleichzeitig Bewegung, wo sonst eine Wand wäre. Und sie ermöglichen Begegnungen unterschiedlicher Menschen: «Das Durchhaus halte ich für ein ganz wichtiges demokratisches Element im Kleinen. Man trifft sich, man sieht sich, man kriegt einander mit», sagt Oliver Schürer. Wer von der belebten Straße in diesen Mikrokosmos tritt, für den:die bleibt auf einmal die Zeit stehen.

Kraut, Rüben und Gatsch.

An die 700 Durchhäuser gibt es in Wien. Entstanden sind sie durch den starken Bevölkerungsanstieg im 18. und 19. Jahrhundert, um den Fußgänger:innenverkehr zu vereinfachen. Die Autorin Gabriele Hasmann hat für ihr Buch Geheime Pfade Wiener Durchhäuser und Innenhöfe erforscht. «Die meisten Durchhäuser waren einmal Fußwege durch ehemalige Gärten. Hier wurde Gemüse angebaut, getratscht und geklatscht; die Kinder konnten abseits der Straßen spielen.» Sozialer Mittelpunkt der Durchhäuser waren die Hausbrunnen, die schließlich durch das Entstehen der Bassenas in den Hausfluren verschwanden.
Anfangs nur für die Hausbewohner:innen gedacht, wurden die Durchhäuser nach und nach bei der Neuparzellierung der Stadt für die Allgemeinheit geöffnet. Wie unangenehm der verstärkte Durchzug für manche:n Hausbewohner:in wurde, zeigt das Sprichwort «Des is jo ka Durchhaus!». Schubkarren, die bei Regen auf den ungepflasterten Wegen im Gatsch der Wiener Hinterhöfe steckenblieben, oder Pferdemist, der von den Karren fiel und für Geruchsbelästigung sorgte – all das machte das Leben im Durchhaus nicht immer angenehm.
Auch änderte sich viel an der Bebauung der Innenhöfe, erklärt Hasmann. So wurde aus dem Biedermeierkomplex der einst 17 Meter breiten Sünnhof-Passage zwischen Ungargasse und der Landstraßer Hauptstraße mit der Zeit ein lediglich fünf Meter breiter gassenähnlicher Hof. Dieser ist heute bei Tourist:innen besonders beliebt: Die bunten Regenschirme und Veranden sind begehrte Instagram-Motive.

Freiwilligkeit und Privatbesitz.

Die Öffnung der Innenhöfe geschah auf freiwilliger Basis, daher auch der Name «Freiwilliger Durchgang», der heute noch über einigen Torbögen steht. Diese Freiwilligkeit erklärt Hasmann so: «Auch wenn es ein öffentlicher Durchgang ist, ist das Durchhaus an sich Privatbesitz. Zuständig sind Hausverwaltungen der Wohnungseigentümer:innen. Selbst wenn das Durchhaus der Stadt Wien gehört oder in die Zuständigkeit von Wiener Wohnen fällt, kann es geschlossen werden.»
Diese Schließungen beklagte schon der Schriftsteller Franz Gräffer in seinen Wiener Memoiren, die 1845 erschienen sind. Wehe dem armen Teufel, der Wien ein paar Jahre oder Monate fernbleibe und «seine gewohnten Gänge durch die Stadt machen will». Der werde bei ­einer Menge Häuser zwar Eingänge, aber ­keine Durchgänge mehr finden: «Ach ja, das ist kein Durchhaus mehr, so, so, aha.» An manchen Stellen findet man in Wien daher statt der Aufschrift «Freiwilliger Durchgang» eine Plakette mit «Durchgang verboten». Dort haben es sich die Hausbesitzer:innen anders überlegt.
Das abendliche Schließen war indes ­üblich, um die Nachtruhe zu gewähren. Das gilt für ­einige Wiener Durchhäuser bis heute. So wird das Schlossquadrat in Margareten abends versperrt. Wer spät Besuch hat oder erwartet, kann schon mal mit dem großen Haustorschlüssel ausrücken.

Von Keimen und Kunstwerken.

Soziale Hotspots sind Durchhäuser bis heute. Denn wo Privates und Öffentliches verschwimmt, kommt es auch zu Problemen. Deshalb entstand in einem Durchgang im Sonnwendviertel in Favoriten im Frühjahr 2022 ein farbenfrohes Kunstwerk, das an die Choleraepidemie von 1830 bis 1873 erinnert. Diese brach aus, als Abwässer aus privaten Haushalten das öffentliche Trinkwasser verseuchten. In der Wandbemalung sind ­gesichtslose Männchen dabei, mit Eimer und Wischmob symbolisch den Abermillionen Keimen Herr zu werden, die durch die schlechte Trinkwasserversorgung die Stadt terrorisierten und rund 18.000 Wiener:innen das Leben kosteten.
Das Bild, konzipiert vom Künstler ­Moussa Kone, akzentuiert zwar das Durchhaus und lenkt den Blick nach oben, doch während der Pandemie reichte der Fokus tief nach unten: Unter dem heutigen Durchgang fließt der «Favoritner Sammler», ein Sammelkanal, der die Abwässer des südlichen Wiens abführt. Erst durch die Konstruktion der Wiener Kanalisation unter Kaiser Franz Joseph I. und die Eröffnung der Hochquellwasserleitung (beides 1873) konnte die Epidemie bezwungen werden.
Die heutigen Anwohner:innen des Durchhauses wurden in die Gestaltung des Kunstwerks miteinbezogen. «Das war schon geil, abends heimzukommen und dieses riesige Gerüst zu sehen, auf dem gearbeitet wurde. Diese Spannung, wie es wird, wenn’s fertig ist», sagt Anwohnerin Michelle Schreiner. Mit dem Ergebnis ist sie sehr zufrieden. Mit dem generellen Konzept «Durchhaus» nicht immer. Man kümmere sich liebevoll um die Gärten und Hochbeete, und Passanten ließen einfach ihre Hunde hineinlaufen und alles vollpinkeln. Das sei schon traurig.

Goldenes Bermudadreieck.

Wer durch den ­malerischen Durchhausdschungel des Rabenhofs marschiert, trifft in der sommerlichen Hitze vorwiegend auf Anwohner:innen, die ihre matten Vierbeiner im Innenhof äußerln führen und die besten Schattenplatzerl unter den riesigen Lindenbäumen besetzen. Man kennt sich im ­Gemeindebau. Zuerst werden die Hunde begrüßt, dann die Besitzer:innen auf der anderen Seite der Leine. Sitzen und schauen. Zu ­sehen gibt es wahrlich genug. Sieben Straßen und ­Plätze werden durch den Rabenhof im dritten Bezirk miteinander verbunden. 1.112 Wohnungen befinden sich in dem 1988 generalsanierten Art-Déco-Bau. Spitzbögen, Kinderspielplätze, verwaiste Einkaufswägen, mit Fahrradschlössern gesicherte Rollatoren, grüne Oasen: Der Rabenhof ist Sinnbild für einen Mikrokosmos. Das Dorf in der Stadt.
Im Sommer hat es in den unzähligen mit Durchhäusern verbundenen Innenhöfen etliche Grad weniger als in den umliegenden Straßen. Da tratscht es sich auch gemütlich. Ob der Waschsalon direkt neben dem Durchgang zur Baumgasse noch in Verwendung ist? «Ja, einmal im Monat können Sie mit der Wiener-Wohnen-Karte gratis waschen», erklärt eine junge Hunde­besitzerin. Einmal pro Monat? Da sollte man also ganz viele Unterhosen besitzen, damit sich das ausgeht. Den Waschsalon finde sie aber ­weniger spannend als das «Goldene Bermudadreieck», in dem ungewollte Möbelstücke abgestellt werden. Sie selbst habe die Hälfte ihrer Wohnung mit den Fundstücken eingerichtet. Man ­müsse aber schnell sein: «Wenn ich von der Wohnung aus sehe, dass was Cooles dasteht, renn ich gleich runter. Eine Stunde später kann’s schon weg sein.»

Linienverkehr im Schweizer Käse.

Das Kontrastprogramm zu den engen, verträumten Durchhäusern der Innenstadt liegt ein wenig weiter draußen. Am Ende der U4 in Heiligenstadt steht seit den 1920er-Jahren der Karl-Marx-Hof. ­Seine Durchhäuser verleihen ihm das Aussehen von Schweizer Käse. Sitzt man in einem der Innenhöfe, ist man sich nicht ganz sicher, welche Art von Bauwerk eine:n hier umgibt. Die runden Bögen mit den Durchgängen – rot, aber nicht dunkel genug, um als marxistisch durchzugehen. Die merkwürdigen Turmaufbauten, an denen blaue Fahnenstangen befestigt sind. Zartgelbe Überbauten, die das Ganze zusammenhalten. Und Löcher wie die Eingänge in die Mäuse­wohnung bei Tom und Jerry. Das heimelige Gefühl enger Torbögen und die Ästhetik blank polierter Pflastersteine weichen einer eher tristen Weite. Auf den Rasenflächen schlafen Menschen neben ihren Einkaufstrolleys. In den Büschen verfangen sich Plastiksackerln, die der Wind vertragen hat.
Auf der einen Seite docken an der Station Heiligenstadt die U4 und Schnellbahnverbindungen an. Über die andere Seite zieht sich die Heiligenstädter Straße. Fahrbahn, Nebenfahrbahn, Straßenbahn. Es rattert und rüttelt. ­Alles ist in Bewegung. Selbst die Durchhäuser des Karl-Marx-Hofes kennen keine Ruhe. Alle paar Minuten fahren Busse der Linien 142, 38A und 400 durch die Löcher im Gemeindebau. Über ihnen ganz normale Wohnungen, die Fenster zum Lüften geöffnet. Ob es angenehm sei, so zu wohnen? «Das ist normal», sagt eine Bewoh­nerin achselzuckend. Man kenne es schließlich nicht anders. Leben sei Bewegung. Würde sich nichts tun – wäre das auch nichts.

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