Leben in der Warteschleifetun & lassen

Asylverfahren: absichtlich in die Länge gezogen?

Wer in Sicherheit ist, kann traumatische Erlebnisse besser überwinden. Asylverfahren sind das Gegenteil: Ihre Undurchschaubarkeit verstärkt die existenzielle Verunsicherung – das trägt zur Desintegration bei. Von Gregor Stadlober (Text) und Nanna Prieler (Illustration).

Wer in Österreich einen Asylantrag stellt, muss lange warten. In der ersten Instanz sind es durchschnittlich 14 Monate bis zum Bescheid – eine Zeit, in der man fasst nichts arbeiten darf, keinen Anspruch auf einen Deutschkurs hat und nichts unternehmen kann, um etwas an dieser Situation zu ändern. Die einzige Handlungsmöglichkeit, die den Betroffenen gelassen wird, ist die freiwillige Rückkehr. Dafür rührt das Innenministerium auch kräftig die Werbetrommel, zum Beispiel im Wartebereich des Bundesamts für Fremdenwesen und Asyl (BFA): Genau dort, wo Geflüchtete entweder auf ihre Einvernahme warten oder versuchen, Auskunft über den Fortgang ihres Verfahrens zu erhalten, werden sie von einem Video berieselt, das sie zur Aufgabe animieren soll – und zwar in Dauerschleife.

Eine Spritze holen.

Darüber hinaus erfahren Betroffene beim BFA wenig. Ahmad*, ein Syrer, der kürzlich nach 18 Monaten Asyl zuerkannt bekommen hat, ist trotzdem regelmäßig hingegangen, sich «eine Spritze holen», wie er es ausdrückt – die Vertröstungen der Auskunftspersonen hätten ihm immer wieder ein bisschen Energie gegeben, und das Gefühl, wenigstens irgendetwas unternommen zu haben.

Auch bei seinem irakischen Freund Sivan* hat es 18 Monate gedauert. Eineinhalb Jahre, in denen sich seine Frau und die vier Töchter vor der Miliz versteckt haben, die Sivan töten wollte, weil er sich geweigert hatte zu kooperieren. Eineinhalb Jahre tägliches WhatsAppen, bei dem er seiner Frau ein ums andere Mal erklären hätte sollen, was er selbst nicht verstand. Michela Scolati, Flüchtlingsberaterin bei der Diakonie: «Der Mann ist irgendwo in Europa und sagt ‹Hm, ich kann dich nicht nachholen, weil alles so lange dauert …› – und die Frau sitzt in Syrien und versteht seine Situation noch viel weniger als er. Da entsteht Misstrauen, die Frauen glauben den Männern nicht mehr, und oft kommt es zu massiven Eheproblemen.»

Die Asylwerbenden von Marienthal.

Der Psychiater Hans Keilson hat in einer Studie über im Holocaust traumatisierte Kinder herausgefunden, dass eine schwere Traumatisierung, aus der man rasch in eine sichere Umgebung kommt, eine viel bessere Aussicht auf Heilung hat als eine leichte, nach der man noch lange weiter in Unsicherheit lebt.

Das Gefühl, während des Asylverfahrens ohnmächtig einer undurchschaubaren und willkürlichen Macht ausgeliefert zu sein, ähnelt noch dazu selbst einer Traumasituation. «Wir erfahren nicht über Medien, dass wieder Asylsuchende nach Afghanistan abgeschoben worden sind, wir merken’s, indem wir am nächsten Tag überlaufen sind, weil unsere Klient_innen Panikattacken und andere Angstzustände haben», sagt Saira Pilaković von der Abteilung Integration und Interkulturarbeit bei der Volkshilfe. Diese jahrelange existenzielle Unsicherheit fresse sich unheilbar in die Knochen. «Es ist eine Art organisierter Desintegration, aus der man sich dann, kaum hat man einen Aufenthaltstitel bekommen, von 0 auf 100 integrieren soll.»

Gleichzeitig fehlt es an dringend nötigen Therapieplätzen, Pilaković schätzt die Versorgungsrate auf unter 10 Prozent. Entsprechend überlastet sind spezialisierte Einrichtungen. Bei Hemayat etwa, einem Verein, der traumatisierten Menschen psychotherapeutische Unterstützung bietet, beträgt die Wartezeit im Schnitt eineinhalb bis zwei Jahre.

«Durch das aus einer geregelten Struktur Vollkommen-rausgenommen-Werden erlebe ich bei Leuten fast schon ein Verlernen, Terminen nachzugehen und Arbeiten auszuführen», sagt Johanna Enzendorfer, Sozialberaterin bei der Diakonie. «Da kann man überall ‹Die Arbeitslosen von Marienthal› drüberlegen», ergänzt Michela Scolati und spricht damit die Studie von Marie Jahoda und Kollegen an. Darin wird beschrieben, was Menschen droht, die über einen langen Zeitraum zum Nichtstun gezwungen sind: ein sich verschlechternder Gesundheitszustand, abnehmende Aktivität, die Auflösung subjektiver Zeitstrukturen, Depression.

Etwas tun wirkt Wunder.

Manche Leute lassen sich selbst von solch einer Situation nicht unterkriegen. Ahmad etwa war in der Lage, die Wartezeit konsequent zum Lernen zu nützen, inzwischen dolmetscht er für seine Freunde. «Personen, die das schaffen, hatten abgesehen von eigenen Ressourcen wie zum Beispiel Bildung in der Regel von Anfang an eine gute Betreuungsstruktur», erklärt Enzendorfer, «also Ansprechpersonen, Deutschkurse, Buddys etc. Es ist aber sehr oft Zufall, ob man in so was hineingerät oder nicht.» Man braucht also Glück, denn institutionalisiert sind diese Strukturen nach wie vor nicht (obwohl Wien unter der Devise «Integration vom ersten Tag an» gerade dabei ist, viele neue Bildungsangebote zu schaffen).

Einigen von Ahmads Heimkollegen geht es nicht gut. Wenn man sie fragt, was sie machen, sagen sie «Nichts», dann lang nichts und dann «Facebook», «mit Freunden spazieren gehen» und «Fitness». Im Bett liegen und warten, dass die Zeit vergeht, zwischendurch mit Freunden spazieren gehen oder ins Fitnessstudio – das hört sich ein wenig nach Gefängnisalltag an. Hier wie dort gibt es wenig mehr als den eigenen Körper, worüber die Leute einigermaßen selbst bestimmen können und wo sie sich als wirksam erfahren.

Dabei könnte schon ganz wenig Arbeit Wunder wirken. Enzendorfer: «Ich hab ein paar Leute, die in Pensionistenwohnhäusern einmal die Woche ehrenamtlich zwei Stunden arbeiten. Da gibt’s Klienten von mir, die erkenn’ ich kaum wieder im Vergleich zu vor ein paar Monaten. Wegen einem Termin in der Woche!» Leider sei das die Ausnahme, weil ehrenamtliche Tätigkeiten für Asylwerber_innen sehr schwer zu finden wären. «Das liegt zum einen daran, dass Organisationen und Firmen Angst vor dem Ausländerbeschäftigungsgesetz haben, weil nirgends ausdrücklich steht, dass das Ehrenamt für Asylwerber_innen ok ist. Zum anderen fehlt eine eigens dafür zuständige Stelle, die sich um die Vermittlung kümmert und die Leute dann auch begleitet.»

Die langen Wartezeiten schaden nicht nur der Gesundheit, sie sind auch teuer. Neben den etwa 10.000 Euro pro Person und Jahr für die Grundversorgung geht es dabei um die Folgekosten, die durch Vernichtung von Wissen und Erschwerung psychischer Gesundung entstehen – und schlicht durch die verstreichende Zeit, die nicht nur die meist im aktivsten Alter ankommenden Flüchtlinge, sondern auch eine kühl kalkulierende Gesellschaft in jeder Hinsicht produktiver nutzen könnten. Sämtliche Beteiligte sollten demnach ein vitales Interesse daran haben, die Verfahren kurz zu halten. Warum also wird hier so viel Kapital vergeudet?

Der Rest ist politisches Versagen.

Da ist zum einen ein Asylgesetz, das seit 2007 siebzehnmal geändert und damit bis an den Rand der Unnachvollziehbarkeit verkompliziert worden ist. Dann seien da technische Probleme gewesen, durch die das BFA nach seiner Gründung 2014 ein halbes Jahr lang fast lahm gelegen sei, schildert Anny Knapp von der Asylkoordination, der Rest sei politisches Versagen, weil man dem BFA viel zu spät und zögerlich die zusätzlichen Ressourcen für das rasch wachsende Arbeitsvolumen gewährt habe. Der Verdacht, dass auch politischer Wille im Spiel war, um Menschen zur Aufgabe zu bewegen und eine abschreckende Wirkung zu erzielen, lässt sich – sieht man von Rückkehrwerbevideos ab – wohl kaum belegen. Die Asylsprecherin der Grünen, Alev Korun, mutmaßt zum Beispiel, dass Verfahren Minderjähriger in die Länge gezogen werden, damit diese vor dem positiven Bescheid die Volljährigkeit erreichen und deswegen ihre Familie nicht mehr nachholen dürfen. Korun stützt sich dabei aber nur auf Erfahrungsberichte, denn Daten, die das klären könnten, werden laut BFA nicht erhoben. «Es ist erstaunlich, was das Innenministerium alles nicht erhebt, wenn es kritisch werden könnte», kommentiert Korun trocken.

Der Personalstand der Behörde jedenfalls ist seit 2014 von 555 schrittweise auf knapp 1.300 erhöht worden. Katrin Hulla, Rechtsberaterin bei der Caritas, sieht seither Fortschritte in der Verfahrensqualität. Die Einvernahmen seien mit den gründlich ausgebildeten neuen Leuten besser geworden, den Asylsuchenden würde mehr Raum für ihre Geschichte gegeben und die Befragungen nicht mehr so wie früher wie Polizeiverhöre ablaufen, in denen der oder die Verdächtige aufs Glatteis geführt wird. In der Statistik schlägt sich das allerdings bislang nicht nieder: Die Quote der von der zweiten Instanz, dem Bundesverwaltungsgericht, aufgehobenen Entscheidungen des BFA blieb 2015 und 2016 stabil bei etwas über einem Drittel, Zahlen für 2017 sind nicht verfügbar.

Einen messbaren Fortschritt weist die Halbjahresstatistik des BFA aus: Die Menge der offenen Verfahren ist von 63.912 auf 47.840 gesunken. Das entspricht allerdings weitgehend dem deutlichen Rückgang der Asylanträge und einer Verlagerung von offenen Verfahren in die zweite Instanz (einer Folge der erhöhten Zahl an Bescheiden und einem gleichzeitigen Anstieg der Quote an negativen Entscheidungen).

Für die einzelnen Betroffenen hat sich also kaum etwas geändert, außer dass die Wahrscheinlichkeit, vom BFA Asyl zuerkannt zu bekommen, deutlich geringer geworden ist – als würden die Fluchtgründe weniger werden, wenn man nur lang genug im Verfahren feststeckt.

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