Leben mit angezogener Bremsetun & lassen

Jugendliche Flüchtlinge in Wien

Sicherheit, Bildung, Zukunft? Wollen wir alle. Doch jugendliche Flüchtlinge in Wien können davon oft nur träumen, stellen Michael Bodenstein und Alban Knecht (Text) fest. Dafür verantwortlich ist eine Politik, die die Jugendlichen vor allem warten lässt.

(Foto: Michi Matthes)

«Für meine Dokumente braucht man bald eine Bibliothek!» Jama* zeigt uns seine Asylunterlagen und beginnt mit der Bürokratie: Länderberichte aus eineinhalb Jahrzehnten, Urteile und Einsprüche von der ersten Instanz bis zum Verfassungsgerichtshof, Transkripte sämtlicher Interviews. Dann folgen mit steigendem Stolz seine Zertifikate, Zeugnisse, Urkunden, Praktika-, Schnuppertags- und Arbeitsbescheide. Bei den Deutschzertifikaten stutzen wir kurz und kommentieren: «Die gelten leider nicht mehr an der Universität.» Er weiß es bereits und lacht nur: «Schlimmer als mit der Arbeitserlaubnis kann es nicht mehr werden.» Und tatsächlich, nach dem Jahr 2011, als die langsamen Mühlen der Bürokratie die Asylgesetznovelle aus dem Jahr 2005 gegen ihn wendeten und seine Lohnarbeit der letzten sechs Jahre sämtlich im Nachhinein für illegal erklärten, ist eigentlich kein weiterer Tiefpunkt vorstellbar. «Hier ist noch Platz für ein Zertifikat», schmunzelt Jama und klappt die Mappe zu.

Jamas stoische Ruhe und sein ganz eigener Humor stellen eine Ausnahme im Umgang mit der erzwungenen Passivität des Wartens und den gegenläufigen Zeitperspektiven dar. Nach Jahren quälender Ungewissheit und pro Instanz zunehmender Wartezeiten, die auf ein rasantes Asylgesetznovellierungstempo treffen, könnte hierin auch ein Selbstschutz gesehen werden, der dabei hilft, nie die Hoffnung zu verlieren. Jama ist mit der Bürokratie alt geworden, hat sich aber seine Jugend bewahrt.

Lähmender Alltag.

Nicht alle Geflüchteten strahlen diese Leichtigkeit aus. Studierende des Bachelorstudiengangs Soziale Arbeit an der Fachhochschule Campus Wien haben jugendliche Asylsuchende in einem Lehrforschungsprojekt befragt. Wie bereits in Gregor Stadlobers Artikel «Leben in der Warteschlange» im Augustin Nr. 444 aufgezeigt, gilt auch für jugendliche Asylsuchende, dass das Warten eine äußerst belastende Situation darstellt. Für sie hat das Warten sogar eine besondere Bedeutung, weil es in ihrem Alter, für das ein Aufbruch vorgesehen ist, kaum Möglichkeiten gibt, etwas für die Zukunft zu tun, solange das Asylverfahren noch nicht abgeschlossen ist. Die Jugendlichen müssen erleben, wie ihre langfristigen Entwicklungs- und Beschäftigungsmöglichkeiten beschädigt werden, während sie gezwungen sind, ein Leben mit angezogener Bremse zu führen.

Die Verunsicherung durch das Warten belastet die Jugendlichen und kann Retraumatisierungen sowie seelische und körperliche Erkrankungen zur Folge haben. So resümiert ein Jugendlicher seinen lähmenden Alltag: «Ich schlafe jeden Tag, und ich bin krank.»

Sehr deutlich zeigen sich die Unterschiede, wenn man vergleicht, was das Erreichen der Volljährigkeit für Jugendliche, die hier aufgewachsen sind, und Jugendliche, die hierher geflüchtet sind, bedeutet. Während für die einen die Möglichkeit im Vordergrund steht, einen Führerschein zu machen, alleine wegzugehen und unabhängig von den Eltern entscheiden zu können, ändert sich für jugendliche Asylsuchende mit dem 18. Geburtstag noch einmal alles: Ihre Unterkünfte müssen sie verlassen, da die besonderen Zuwendungen und die Betreuung für Kinder und Jugendliche auslaufen. Wie ein Betreuer einer Wohngemeinschaft für unbegleitete Flüchtlinge erklärt, ist der Erhalt einer Nachbetreuungswohnung reine Glückssache. Häufig sind Geflüchtete gezwungen, mit einem nun drastisch reduzierten Tagessatz selber eine Wohnung zu finden. Diskriminierung führt auch hier zu langen Wartezeiten: «Der Vermieter akzeptiert auch nicht so gerne Flüchtlinge», klärt uns einer der Jugendlichen auf.

Beschäftigung.

Im Rahmen des Forschungsprojektes wurden auch zwei Bildungsangebote untersucht, die es für Jugendliche nach Beendigung der Schulpflicht gibt: PROSA und das Jugendcollege.

PROSA, das Projekt Schule für alle, ist 2012 entstanden, als einige engagierte Menschen jugendliche Flüchtlinge dabei unterstützen wollten, das Warten erträglicher zu machen. Sie haben ihnen geholfen, sich nach erfolgter Basisbildung auf die externe Prüfung des Pflichtschulabschlusses vorzubereiten. Aus dieser Anfangsidee ist ein großes Projekt entstanden, das mittlerweile auf über 120 Absolvent_innen zurückblicken kann. Ohne das massive Engagement der ehrenamtlichen Mitarbeiter_innen und zahlreiche Spenden hätte das Projekt wohl nie seinen fünften Geburtstag feiern können.

In den Interviews mit Schüler_innen von PROSA wird klar, welche immense Bedeutung der Schulbesuch hat. «Allgemein, wenn man mit etwas beschäftigt ist, ist Warten viel leichter», beschreibt einer der Interviewten. «In der Wartezeit hat es viel geholfen, das Asylverfahren zu vergessen, jeden Tag in die Schule zu kommen, zu lernen, neue Leute kennenzulernen, zusammen zu lachen, Hausübung zu machen, Schularbeiten zu schreiben und einfach beschäftigt zu sein.» Ein weiterer Interviewpartner zeigt sich angesichts der flankierenden Maßnahmen wie Hilfe bei der Arbeits- und Wohnungssuche oder der Nachbetreuung euphorisch: «Und das hat nicht nur beim Lernen geholfen, sondern einfach in deinem ganzen Leben. Man kann sagen‚ PROSA for life.»

Das Jugendcollege, ein Projekt der Stadt Wien für asylsuchende Jugendliche, wurde 2016 ins Leben gerufen. Auch dort haben sie die Möglichkeit, Deutsch zu lernen und sich ein mittelschul-analoges Grundwissen anzueignen. Allerdings führt das «College» trotz des hochtrabenden Namens nicht zu einem Pflichtschulabschluss und bietet so keinerlei Perspektiven in der österreichischen Bildungslandschaft wie auch keine realistischen Chancen auf eine Lehrstelle.

Das entspricht auch der Innensicht der befragten Schüler_innen, die einerseits glücklich darüber sind, etwas für ihre Zukunft tun zu können, aber gleichzeitig ein Gespür dafür entwickelt haben, dass es sich nicht um eine reguläres Bildungsangebot handelt. In den Interviews wünschen sie sich Maßnahmen, die sie stärker integrieren: Sie hätten gerne in der Schule Kontakt zu österreichischen Jugendlichen, um den engen Kontext von Asylsuchenden und Unterkünften zu verlassen und stärker am normalen Leben zu partizipieren.

Hier zeigt die Kritik der Jugendlichen auch, wie die Politik der Integration immer wieder Steine in den Weg legt: Es sind die verzögerten Asylverfahren, die die Jugendlichen in einem äußerst belastenden Schwebezustand halten. Gleichzeitig werden jugendliche Asylsuchende von der euphemistisch «Ausbildung bis 18» genannten Ausbildungspflicht ausgeschlossen, und wenn überhaupt, dann separiert unterrichtet. Arbeiten dürfen sie nur in eng definierten Ausnahmesituationen wie Saisonarbeit, eine Lehre machen nur in Mangelberufen und nach Zustimmung des AMS – das ihnen aber bei der Arbeitssuche nicht helfen darf.

Organisierte Exklusion.

Die jugendlichen Asylsuchenden sind einem Mechanismus unterworfen, den man «organisierte Exklusion» oder «Exklusion in der Inklusion» bezeichnen kann. Einerseits bemüht sich die Politik um Mechanismen, die Integration beschleunigen sollen; doch werden gleichzeitig Bremsmechanismen eingebaut, die eine weitergehende Integration verhindern. Die fehlende Integration wird ihnen dann von der Politik wieder vorgeworfen. Das geht so weit, dass einschlägige Politiker_innen den Jugendlichen ein angeblich fehlendes Interesse an Bildung andichten, während es gleichzeitig wenig angemessenes Kursangebot gibt. Entgegen der Polemik einiger öffentlicher Medien zeigte die hohe Motivation und das hohe Engagement der Jugendlichen, die im Rahmen des erwähnten Forschungsprojektes interviewt wurden, dass die Brems- und Blockademechanismen der Politik das eigentliche Problem sind.

*Name von der Redaktion geändert