Drei aktuelle Comics beleuchten mit unterschiedlichen Mitteln unterschiedliche Formen von Beherztheit und Widerstand zu je unterschiedlichen Zeiten im letzten Jahrhundert.
TEXT: MARTIN REITERER
«Ich war ganz schön durchtrieben. Das bin ich übrigens auch heute noch ein wenig.» Das sagt die rund 80-jährige Francine R. Ende der Neunzigerjahre bekommt der Zeichner Boris Golzio einen Anruf von einer alten Dame. Wie sich herausstellt, handelt es sich um die Cousine seines Großvaters. In den folgenden Jahren intensivieren sie den Kontakt, und so erzählt Francine, die zur Zeit des französischen Kollaborationsregimes von Philippe Pétain in den Widerstand ging und in Folge nach Ravensbrück deportiert wurde, ihre Lebensgeschichte. Nun hat Golzio die Aufnahmen, die er vor fast 20 Jahren gemacht hatte, als Comic umgesetzt. Es ist der mündliche Bericht einer Zeitzeugin, den der Zeichner bewusst in der Ausdrucksweise der betagten Erzählerin belässt. In reduzierten Zeichnungen, koloriert in Brauntönen von Hell bis tief Dunkel, ist hier die Geschichte einer mutigen jungen Frau protokolliert. Zusammen mit ihrer Schwester setzte sich die 21-Jährige mit Köfferchen voller Waffen in Züge, um einen Tag durch die Gegend zu ruckeln und ihr geheimes Gut in einem Versteck der Maquis, einer Gruppe französischer Widerstandskämpfer, abzuliefern.
Frauen spielten im Widerstand gegen den Nationalsozialismus eine zentrale Rolle, da sie als unverdächtiger eingeschätzt wurden. Doch was, wenn sie erwischt wurden? – Francine und Marie-Louise hatten sich «geschworen, auf keinen Fall die Widerstandsgruppe zu verraten». Am 6. April 1944 geschah es: «Da wir nicht reich waren, hatten wir außer dem glänzenden Fenstergriff nur einen kleinen Spiegel zum Kämmen. Ich sah sie im Spiegelbild vorbeifahren …», schildert Francine den Augenblick, bevor sie von Deutschen abgeholt wurden. Tatsächlich haben die beiden Widerstandskämpferinnen die Gruppe nicht verraten. Doch dann wurden sie nach Ravensbrück «in das schreckliche Konzentrationslager» deportiert. Im Außenlager Watenstedt/Leinde wurde Francine an die Reichswerke Hermann Göring «ausgeliehen». Ihre Schilderungen sind ein Beispiel des Schreckens. Eindrucksvoll stechen daraus die Erinnerungen hervor, die die Courage der jungen Frau und anderer Personen beschreiben. Selbst im Lager brachte Francine den Mut zu Sabotageakten auf. Tief ins Gedächtnis graben sich auch die vielen kleinen Rettungen ein, die Francine der Zivilcourage anderer zu verdanken hatte, darunter eines Deutschen. «Es gab üble Franzosen, und es gab Deutsche, die bereit waren, mein Leben zu retten. Über diesen hier kann ich sagen: Er hat mir das Leben gerettet.»
Spanischer Anarchist in Frankreich.
Wie ein Lichtkegel beleuchtet der Comic Nacht über Brest von Damien Cuvillier, Bertrand Galic und Kris einen Moment der Dreißigerjahre in Frankreich. Im Mittelpunkt steht der Agent X-10, dessen Rolle historisch präzise nachverfolgbar ist, ohne dass der spanische Anarchist jemals aufgedeckt wurde. Den Leser_innen vertraut er sich dagegen an: «Ich bin die Nacht.» Der Grund seines Erscheinens ist das Auftauchen des havarierten U-Bootes C-2 der Spanischen Republik – und der geheime Plan des franquistischen Geheimdienstes, das U-Boot zu überfallen und zu kapern.
Das als Spionage-Comic choreografierte historische Ereignis beruht auf gründlichen Recherchen des Historikers Patrick Gourlay. Die Hafenstadt Brest ist in den Septembertagen 1937 gleichsam ein mikrokosmisches Abbild der sozialpolitischen Lage Frankreichs dieser Zeit. Gerade hat der Sozialist Léon Blum unter der Front populaire die linken Kräfte vereint. Doch unter der Oberfläche brodelt es. «Der spanische Bürgerkrieg landet in der Bretagne», kündigt der Untertitel an. Rechtsextreme Gruppierungen wie die Cagoule hegten zu dieser Zeit den Plan, die Dritte Republik zu stürzen und ein autoritäres Regime zu errichten. Ein soeben von der Geheimorganisation verübter Sprengstoffanschlag auf den Sitz des Arbeitgeberverbands in Paris sollte den Verdacht auf die Kommunisten lenken und die Regierung destabilisieren. Indessen reiste General Francos Geheimdienst unkontrolliert ins Nachbarland ein. Denn die linke Regierung hat sich auf Neutralität und Nichteinmischung eingeschworen.
Doch X-10 ist den Franquisten einen Schritt voraus, als Agent hat er Francos Geheimdienst infiltriert. Nun ist er da, um die lokalen Verbündeten – Anarchiste_innen, Kommunist_innen – zu informieren und Francos Pläne zu durchkreuzen: als «Rettungsschiff aus der Nacht, das in Seenot geratene Boote vor ihrem sicheren Untergang bewahrt. Die Schiffbrüchigen heißen Republik, Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit und Widerstand …» Das Pathos trägt er ironisch. Wo der Rechtsstaat nicht greift, ist Widerstand angesagt. Unter Mithilfe politisierter Bevölkerungsgruppen wird die Gefahr eines Bürgerkriegs abgewandt. Doch sichtbar wird auch: Die spätere französische Bereitschaft zur Kollaboration mit den Nationalsozialisten kam nicht von ungefähr.
Eine Watsch’n für den deutschen Bundeskanzler.
Wie viel Zivilcourage in europäischen Nachkriegsrepubliken vonnöten war, zeigt die Geschichte von Beate und Serge Klarsfeld. Um es vorweg zu sagen: Ohne ihren Mut und ihre beharrliche Entschlossenheit sähe Europa heute anders aus. Das vermittelt die als Comic inszenierte Biografie dieses außergewöhnlichen Paares anschaulich: Beate & Serge Klarsfeld – Die Nazijäger von Pascal Bresson und Sylvain Dorange basiert auf Klarsfelds Erinnerungen (2015) und taucht in klaren Zeichnungen und wechselnden Kolorierungen in das abenteuerliche Leben der Protagonist_innen ein.
Ein Knalleffekt war die öffentliche Watsch’n, die die couragierte junge Frau im Jahr 1968 dem deutschen Bundeskanzler Kurt Georg Kiesinger erteilte, bevor sie ihm einige Male «Nazi!» hinterherrief. Klarsfelds unmissverständlicher Auftritt wurde zum Symbol einer jungen Generation, die sich von den autoritären Strukturen der Nachkriegsgesellschaft und ehemaligen Nazis im Schafspelz der Demokratie befreien wollte. Sinnbildlich war bereits die deutsch-französische Liaison, die 1960 begann: eine junge Deutsche, Beate Künzel, deren Eltern einst Nazi-Mitläufer waren, und ein französischer Jude, Serge Klarsfeld, dessen Vater seine eigene Familie erretten konnte, selbst jedoch von der französischen Polizei des Vichy-Regimes festgenommen und ins deutsche Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau deportiert wurde.
In den Jahren nach dem Kiesinger-Eklat widmete sich das Ehepaar der Enttarnung untergetauchter Nazikriegsverbrecher, die unbehelligt auf freiem Fuß lebten. Berüchtigtster Fall: Klaus Barbie. Als Gestapo-Chef des Vichy-Regimes wegen seiner sadistischen Grausamkeit als «Schlächter von Lyon» bekannt, ließ er tausende Jüd_innen und Gegner_innen des NS-Regimes foltern und deportieren, darunter die 44 jüdischen Waisenkinder von Izieu; sieben von ihnen stammten aus Wien. 2017 kamen Beate und Serge Klarsfeld zur Enthüllung einer Gedenktafel nach Wien.
Nach dem Krieg genoss Barbie zynischerweise als Experte für antikommunistische Abwehr den Schutz der US-amerikanischen Geheimdienste, die ihm Geleit nach Bolivien gewährten. Damit stellt Barbie einen Link zu südamerikanischen Diktaturen in ihrer Funktion als Auftraggeber für ehemalige Nazis. Dass Barbie 1983 festgenommen und 1987 lebenslänglich verurteilt werden konnte, ist dem intensiven investigativen und aktionistischen Einsatz der Klarsfelds zu verdanken. Für ihre Lebensaufgabe nahmen sie Gefängnisstrafen, Geldprobleme, Bedrohungen ihrer Familie und immer wieder Rückschläge in Kauf. Dafür ist ihre Zivilcourage beispielhaft. Doch viel eher als das Epitheton «Nazijäger» trifft die Bezeichnung «Aktivist_innen der Erinnerung» auf sie zu.