«Let’s Talk About Sex, Baby»Dichter Innenteil

Wir sind mehr als Mösen und Titten (Illustration: Jella Jost)

Aber nenne mich bloß nicht Oma!

Ich befand mich in Vorfreude. Ich meine – in cineastischer Ekstase. Sehe mir gerne feministische Filme an. Emma Thompson und ihr englischer Schmäh hatten mich bisher stets gewonnen, ihr sympathisches Lachen, der britische Humor, ihre Haltung als mittlerweile ältere Schauspielerin in der Welt des Films. Daher leihe ich mir der Einfachheit halber – ich gebe zu, ich war zu bequem mich ins Kino zu bewegen – per Stream den Film aus. Ich mache es mir gemütlich auf meinem Bett und glotze in mein iPad. Klick. Meine Stunden mit Leo. O.k., na gut, aha, das war alles, hatten wir diese Themen nicht schon vor 20, 30 Jahren oder betraf das Thema Sex eigentlich nur Frauen bis maximal 50, also bis zur Menopause?

Danach wurden Frauen ja gesichtslos, asexuell, irgendwie fast schon körperlos gemacht. Ja seltsam, irgendwie fühle ich mich zeitlich zurückversetzt, so als ob dieser Film für die Generation meiner verstorbenen Mutter (Jahrgang 1922) produziert worden wäre. Meine Mutter konnte sich sexuell meinem Vater gegenüber nicht behaupten und auch sonst relativ wenig, da war die Erziehung und die damalige gesellschaftliche Struktur und Politik verstärkt auf sogenannte Weiblichkeit (Sei doch bitte feminin! Du musst dich hübsch machen!) und Gebärfähigkeit fokussiert. Ich erinnere mich, als mein Vater mir einst sagte, meine Mutter sei so schön, ihre langen Beine, deswegen hatte er sie geheiratet, um schönen Nachwuchs zu zeugen, mit geraden Beinen und geraden Nasen. Oder: rassisch einwandfrei, makellos, nicht behindert oder womöglich mit sichtbaren «Fehlern». Das war das Diktum. Die erfolgreich durch die Nazis eingearbeitete Angst im Geiste – vor dem Anblick von Schwäche und Unvollkommenheit. Es blitzte trotz Wissen um das Unmenschliche des Faschismus manchmal immer wieder durch. Ich bin mit einem «Behinderten» verheiratet. Auch seine Schwäche wurde von seinen Eltern versteckt, verheimlicht, in den 50er-, 60er-Jahren. Wie lange Gehirnwäsche wohl wirkt?

Die Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechts ist eine Geschichte von Aberkennung und Wiederaneignung

Aber ich bin abgeschweift. Mein Thema heute: Frauen, ältere Frauen, alte Frauen und Sexualität. Der Film Meine Stunden mit Leo thematisiert das gesellschaftlich negativ geprägte Bild, das viele Frauen von sich und ihrem (egal ob jungen oder alternden) Körper haben. Kurz die Story: Eine ziemlich biedere Religionslehrerin in Pension, verwitwet, hatte ihr Leben lang «nur» einen Sexpartner, nämlich ihren Mann, der in der klassischen Verkehrsstellung – er oben, sie unten – sein Ding absolvierte und dem die Beteiligung seiner Frau am Geschlechtsakt, an der Lust seiner Frau, offenbar völlig egal war. Die Protagonistin Nancy sieht sich rückblickend als Opfer, schildert im Film jedoch in Momenten sehr ironisch, wie sie ihrem Mann einen Orgasmus vorgetäuscht hat. Also was nun? Nach seinem Tod (ach wie anständig, so lang hat sie gewartet!) hat sie sich endlich dazu durchgerungen, möchte man sichtlich glauben, in einem Hotel einen selbstverständlich absolut galanten Sexarbeiter zu bestellen, dunkelhäutiger als sie, muskulös, fesch, sexy, jung, mit dem sie endlich einmal Oralsex erleben will. Sie macht’s ihm. Er macht’s ihr. All das wird durch viel Text und Dialoge kommuniziert, verdirbt aber genau dadurch den gesamten Film. Die Erzählung kommt banal und unglaubwürdig rüber. Wieso Thompson in einem derart schlecht geschnittenen Film, einem oberflächlichen Drehbuch und einer viel zu simpel gestrickten Regie (Sophie Hyde) zugestimmt hat? Sich Feministin zu nennen genügt alleine nicht, ganz besonders beim Mainstreamfeminismus. Die Konstellation der Figuren wird routinemäßig abgespult, Stereotype also, keine wirklich Tiefe. Dabei wären die Themen weitaus farbenfroher! Alter, Selbstbilder, sowohl was Frauen als auch Männer betrifft, Geschlechtsidentitäten und Sexualpraktiken, die kalte, raue Wirklichkeit eines Lebens im Sexbusiness oder dem Hype von Toys, Rassismus, Machtstrukturen, das lässt sich keineswegs so simpel erzählen und entblättern, im wahrsten Sinn des Wortes, als wäre es ein Kinderspiel, die Hüllen fallen zu lassen, seelisch und physisch. Myrthe Hilkens schreibt in ihrem Buch McSex. Die Pornofizierung unserer Gesellschaft: «Die sexuelle Revolution war gestern, heute gehören Pornos zur Freizeitgestaltung. Doch sexuelles Fastfood hat einen nachhaltigen Einfluss auf die junge Generation.» Daryl McCormack als Sexworker spielt mit Feinarbeit, dagegen ist Thompsons Darstellung grob, übertrieben und plump. Wendungen im Liebesleben dieser Figur zeigen sich so, als könnte man einen Knopf bedienen und – wham!, kommt der Orgasmus. Der Orgasmus als Kriterium, ja als Beweis, dass das Ejakulationsziel erreicht wird, dass man nicht aus der Reihe tanzt, dass alles scheinbar normal ist, dass man es tut, genauso wie alle anderen, von denen man glaubt, sie tun es täglich und wären damit megaglücklich. Erinnern wir uns zum Beispiel an den im 20. Jahrhundert bekannten G-Punkt. Letztendlich hat jede Frau ihre individuellen erogenen Zonen, so wie jeder menschliche Körper anders reagiert. Der Versuch der Gleichschaltung der Frauen wird immer wieder unternommen. Ziel: Reduktion, Vereinheitlichung, bessere Kontrolle und Machtausübung. Der G-Punkt liegt nämlich im Bereich der weiblichen Prostata, die anschwellen kann, so wie die langen (bis zu 10 cm) Ausläufer oder «Beinchen» der Klitoris. Nur wurde die Klitoris bis zum Ende des 20. Jahrhunderts quasi totgeschwiegen, vor allem in ärztlichen Fachjournalen. Die Kulturgeschichte des weiblichen Geschlechts ist eine Geschichte von Aberkennung und Wiederaneignung.

«Über Sexualität sollten wir viel öfter und offener sprechen», sagte die Oscarpreisträgerin Emma Thompson

Das sollten wir in der Tat. Aber nicht hinter der Maske einer Freiheit, die nicht unsere ist oder dem Diktat von Coolness. Wir sollten uns vor allem Zeit, viel Zeit nehmen, um einander zu begegnen, in jeder Form. Leistungsdruck, Arbeitsstress, Glücks­erwartungen, falsche Versprechungen, all das und mehr lockt Menschen in eine Richtung, die zur Einbahnstraße werden kann. Wir müssen rebellieren können, gegen den Mainstream, der Bodyshaming für sich vereinnahmt und gleichzeitig offen aber auch subversiv fördert. Sex wird zum medial inszenierten Konsumartikel. Die bekannte Autorin und Kulturwissenschaftlerin Mithu Sanyal schreibt in ihrem Buch Vulva. Die Enthüllung des unsichtbaren Geschlechts: «Da Sprache das System ist, mit dem wir uns in der Welt orientieren und Bewertungen vornehmen, geht das Verschwinden von wertschätzenden oder schlicht präzisen Bezeichnungen stets mit dem Verschwinden eines wertschätzenden Umgangs einher, spiegelt dieses wider oder bereitet es vor. Und da Menschen sich so stark über ihre Geschlechtsorgane identifizieren, dass sie sich aufgrund dieser sogar in zwei grundlegende Gruppen unterscheiden – Männer und Frauen – sind Aussagen über Geschlechtsorgane in der Regel als Aussagen über das gesamte Geschlecht zu lesen.» Wenn also Mädchen nicht miteinander über ihre Genitalien sprechen, bleibt es auf den Bereich des «Hyperprivaten» beschränkt, schreibt Sanyal. Das, ­worüber man nicht redet, was man nicht konkret und klar benennt, sich durch Sprache aneignet. Unser Vokabular fußt auf einer riesigen Menge von Bildern, die wir verknüpfen. «Ist es immer noch so, dass der überwiegende Teil der Worte, die wir in Gesprächen benützen, um weibliche Geschlechtsteile zu beschreiben, ein Vorrecht der Männer ist», wird in dem Buch gefragt. Ich verstehe gut, warum Feministinnen und Künstlerinnen ihre weiblichen Geschlechtsteile exponieren, sie für sich lautstark zurückerobern (müssen). Es gibt den Mythos von der depressiven Demeter, als die Erde schon hungerte und niemand mehr eine Lösung fand. Da kam Baubo (auch: Iambe, eine anatolische Göttin, die von den Griechen übernommen wurde) und brachte Demeter wieder zum Leben und Lachen, als sie ihr ihre Vulva zeigte. In der Kunst wird die Begegnung mit Baubo quasi oft reinszeniert (ich habe die Produktion nicht gesehen, Grischka Voss: F*ing hot, Theater in der Drachengasse). Was mir noch deutlich fehlt, sind die obszönen Gesänge und Reden (Aischrologien) und das Reichen von «mylloi», Sesam und Honiggebäck in Form einer Vulva. Mahlzeit! Und nennt mich niemals Oma!

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