Der Tschocherl-Report (1. Teil)
Tschocherl sind fixer Teil der Wiener Lokalkultur. Anders als beim Heurigen, dem Wiener Kaffeehaus und dem Altwiener Beisl sind sie aber weder beim etablierten Bürgertum noch bei Tourist_innen beliebt. Das ist mit ein Grund dafür, warum sich das Idiom des Wienerischen hier so roh und unverfälscht erhalten hat.Das «Espresso Florida» in der Ottakringer Straße 60 hat schon bessere Zeiten gesehen. Zeiten, in denen das Lokal auch am Vormittag täglich «bummvoll» gewesen sei, wie Herr Rainer, der Wirt, beteuert. Allzu lang sei das gar nicht her, ein, zwei Jahre vielleicht. Doch dann sei auf einmal ein Gast nach dem anderen gestorben, sagt Herr Rainer und deutet auf eine Stelle an der Wand, an der etliche Todesanzeigen hängen. Auch über der Bar prangt das Foto eines ehemaligen Gastes neben dem seines mit Blumen reichlich geschmückten Holzsarges.
Wenn Herr Rainer von seinen einstigen Gästen und ihrem Schicksal spricht, sagt er jedoch nicht, dass sie «gestorben» seien. Er sagt lieber, die hätten den «Arsch aufgestellt» und jetzt den «hölzernen Pyjama», und, die seien «heimgegangen» und jetzt folglich «daham», also tot.
Warum das große Sterben gerade vor ein, zwei Jahren begonnen hat, möchte man wissen. Aber so genau weiß das natürlich keiner, da lassen sich nur Vermutungen anstellen. Eine mögliche Erklärung bietet Herrn Rainer selbst, wenn er meint: «Die hom si docht, in dera Gegend is so beschissen, do hauma uns liaber in die Gruft.» Unzufriedenheit mit dem Grätzel also, vielleicht. Die Gegend entlang der Ottakringer Straße war sicher schon beliebter, damals, als noch nicht jedes zweite Lokal ein Wettbüro war. Aber sich deswegen gleich umbringen?
Wie auch immer, zum Besuchszeitpunkt, an einem schönen Donnerstagvormittag, ist das «Espresso Florida» nur schütter besucht: ein Installateur in blauem Arbeitsoverall, der Herrn Rainer lautstark seine Steuerlast klagt. Dann ein Herr, der von Herrn Rainer «Poidl» genannt wird und der die Kellnerin hinter der Bar seltsamerweise mit «Interruptus» anspricht. Schließlich ein Gast, der über einem Glaserl Wein gebeugt allein an einem Tisch im Eck sitzt und abwesend beim Fenster hinausstarrt. Nicht zu vergessen: Ginger oder auch «Gingi» , der Hund von Herrn Rainer, eine Sie.
Nachdem der Installateur das Florida verlassen hat, offenbart sich, dass das Florida nicht nur dazu da ist, für das leibliche Wohl seiner Gäste zu sorgen. Hier werden auch anders gelagerte Geschäfte gemacht. Jedenfalls lässt der Wirt Herrn Poidl wissen, dass gerade erst 30 Paar Schuhe «hereingekommen» seien, und zwar beste Qualität («à la bonheur die Bock»), und ob Herr Poidl eventuell welche brauchen könne.
Dann betritt Monika oder Monique, eine groß gewachsene Blondine mit kurz geschnittenen Haaren, das Florida. Auch ihr Besuch ist vorwiegend geschäftlicher Natur. Sie kommt im Auftrag Harrys, ihres Lebensgefährten, der mit Krebs im Spital liegt. Nachdem sie sich zu Herrn Rainer und Herrn Poidl an den Tisch gesetzt hat, beginnt sie Rechnungen zu unterschreiben, Zahlscheine auszufüllen, Briefe zu kuvertieren und übergibt schließlich alles an Herrn Rainer, mit den Worten: «So, hiermit hab ich alles, wie beauftragt, an den Herrn Rainer übergeben.» Der Chef des Florida wird nämlich im Lokal noch immer mit Herr Rainer angesprochen, obwohl oder vielleicht gerade weil er schon 23 Jahre der Chef im Florida ist.
Harry, seit über zwanzig Jahren Stammgast im Florida, liegt also im Spital und ist vielleicht ein heißer Kandidat für die nächste Todesanzeige an der Wand. Doch noch ist es nicht so weit. Im Gegenteil, denn Harry kämpfe «wie ein Löwe», wie Monique beteuert, und das obwohl er auch im Spital angeblich rauche wie ein Schlot und regelmäßig in der Cafeteria ein- und ausgehe. Jedenfalls sei er schon wieder «recht sekkant», was ein gutes Zeichen sei.
«Sterbts es, oder i?»
Einer, den es erwischt hat und der sich schon aus der Ottakringer Straße Nr. 60 verabschiedet hat, war einer, den sie hier nur den «Koffer» nennen. Als es bei ihm so weit war, hat das keinen mehr überrascht. Der hätte nämlich, wie Herr Rainer erzählt, fast täglich einen Kilo Schweinsbraten gegessen, ohne Brot, und nachher eine Packung Dickmanns. Im Spital war er schon vorgemerkt, zu den Untersuchungen ging er aber nicht. Einmal riefen sie vom Spital aus im Florida an, doch der Koffer hat nur gesagt: «Sterbts es, oder i?» Schließlich hat er doch abgenommen, 40 Kilo sogar. Danach, sagt Herr Rainer, sei ihm seine leere Wampe heruntergehangen «wie ein Saunafleck. Der het kennan an Aufguss machen damit.» Geholfen hat ihm das alles nichts. Eines Abends ist er beim Ländermatch-Schauen einfach vom Sessel gekippt und war dann «daham».
Ein neuer Gast betritt das Lokal. Er wird von den andern mit Karli begrüßt. Karli grinst, holt einen Wisch aus einem Kuvert und überreicht ihn freudig schwenkend Herrn Rainer. Dieser liest vor: «Na bumm, nur sechs schwarze Punkte auf der Leber, Blutwerte okay, na bumm.» Karli kommt gerade vom Arzt und hat den Untersuchungsbefund dabei. Und der sagt, dass mit seinen Blut- und Leberwerten alles in Ordnung sei. Nur etwas mehr Sport, hätte der Arzt gesagt, und viel trinken! Ja freilich, meinen auch Herr Rainer und Herr Poidl unisono, viel trinken, immer brav trinken! Karli setzt sich an einen freien Tisch, blättert kurz in der «Kronen Zeitung» und verschwindet nach zehn Minuten wieder.
Dann sagt Herr Poidl: «Dass die Karlimaus (eine Anspielung auf dessen Leibesfülle, Anm.) gesund ist, grenzt an ein Wunder.» Der Karli sei nämlich bekannt dafür, einmal im Monat drei Tage lang durchgehend auf seinem Sessel zu sitzen und die ganze Zeit durchzutrinken. Unmengen an Alkohol vernichte er dabei, ganze Völker könne man umbringen, mit dem, was der Karli da trinke. Sicher 50 Bier und 60 Baucherl, meint Herr Poidl, und Wodka auch noch. «Irgendwann liegt der Corleone dann hinten beim Klo am Gang in seinem eigenen Urin», sagt Herr Rainer. Und Monique: «Angenehm ist das nicht. Vor allem hab ich den Karli ja so kennen gelernt. Nicht gerade der beste erste Eindruck.»
Ja, komische Leute kämen schon ins Florida, meint sie. Na ja, lustige Leute halt, nicht negativ gemeint.
Einer, den es auch nicht gehalten hat im Florida, war der frühere Hund von Herrn Rainer, ein Foxterrier namens Chico. Jedes Monat sei der ausgerissen, weiß Herr Poidl, und jedes Monat habe Herr Rainer ihn im Tierasyl am Khleslplatz abholen können. Außerdem sei der Hund so «fickrig» gewesen, setzt Herr Poidl nach, dass er es auch mit einem Elefanten getrieben hätte, hätte sich die Gelegenheit dazu je ergeben.
Info:
«Espresso Florida»
Raucher/Nichtraucher: Raucherlokal (Herr Rainer: «Unsere Gäste sind zu 99,9 % Raucher»), kein Nichtraucherbereich
Essen: nur Frankfurter und Toast
Espresso: 1,50
Schanigarten: ja
Ambiente: Sammelsurium aus Dekorationen der letzten Jahrzehnte, Flipper
Tel.: (01) 406 24 30
Adresse: Ottakringer Straße 60, 1170 Wien