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Foto: © Mario Lang

Rainer Krispel hat seinen Traumberuf gefunden: Trauerredner. Rund 1.000 Reden hat der Augustin-Musikarbeiter, Punkmusiker und ehemalige Arena-Obmann in seinen ersten vier Berufsjahren gehalten.

 

Plötzlich warst du Trauerredner – wie kam es dazu?

Rainer Krispel: Ich hatte irgendwann das Gefühl, dass ich alles durchhabe: Ich habe in einem Schallplattengeschäft gearbeitet, ich habe im Chelsea gearbeitet, ich war Arena-Obmann, ich habe gebucht, geschrieben, bin aufgetreten. Ich bin ­Vater, mittlerweile Opa. Dann sind leider drei Freunde von mir gestorben. Ich habe auf ihren Bestattungen geredet und gemerkt, das kann ich. Ein anwesender Bestattungsunternehmer hat mich gefragt, ob ich auch für Menschen Reden halte, die ich nicht kenne. Das war ein starkes Signal für mich.
Als ich meinen Vater, der leider mittlerweile auch verstorben ist, angerufen habe und gesagt habe, Du, Papa, ich bin jetzt Trauerredner, hat er wie aus der Pistole geschossen gesagt: Na, jetzt hast du endlich deinen Beruf gefunden! Und genauso ist es. Ich habe mir gesagt, in diesem Beruf vergeige ich nichts. Du weißt ja, ich bin ein Deadline-Surfer, wenn es um meine ­Texte für den Augustin geht. Aber bei den Bestattungen bin ich immer pünktlich und gut vorbereitet. Ich bin das erste Berufsjahr unter der Woche gar nicht mehr fortgegangen, ich habe kein Bier getrunken. Und das hat mir auch sehr gutgetan.

Wie lernt man, Trauerredner zu sein?

Ich würde diesbezüglich Hannes ­Benedetto Pircher als meinen Mentor sehen. Ein gemeinsamer Freund wollte, vorerst noch ohne Hintergedanken, dass wir uns kennenlernen. Hannes hat mich abgeklopft. Wir haben ein sehr langes Gespräch geführt, an dessen Ende er mir gesagt hat: Du kannst das! Er war dann auch bei meiner ersten Rede dabei und hat mir Feedback gegeben.
Ich denke, es gehört Intuition dazu, die Fähigkeit, im Gespräch mit den Angehörigen ein Gefühl für die verstorbene Person zu entwickeln. Ich gebe ein Beispiel: Meine erste Verabschiedung war von einer Person, die sehr musikaffin war. Im Gespräch mit der Familie ist mir ein Song in den Kopf gekommen – und es hat sich herausgestellt, dass der tatsächlich von seinem absoluten Lieblingsmusiker war. Anderes Beispiel: Ein Läufer ist verstorben, ich habe in die Trauerrede ­Zitate von dem berühmten tschechischen Läufer Emil Zátopek eingebaut: «Der Fisch schwimmt, der Vogel fliegt, der Mensch läuft.» Und es hat sich herausgestellt, dass die Familie den Zátopek nicht nur bewundert, sondern tatsächlich auch persönlich kennengelernt hat.

Woher wusstest du, dass Trauerredner ein Beruf ist?

Der Verleger, der mein erstes Buch als E-Book verlegt hat, hat als Trauerredner gearbeitet. Was ich aber nicht wusste, ist, wie die berufliche Realität wirklich aussieht. Meine große Furcht vor den ersten Auftragsreden war, dass es emotional so ähnlich würde wie bei meinen drei Freunden. Dann festzustellen, dass ich mit einer gewissen Distanz arbeiten kann, ohne dass es mich kalt lässt, war eine steile Erfahrung. Meine erste Trauerrede, das gute Feedback von Hannes, dass es für die Angehörigen gepasst hat und ich auch selbst mit mir zufrieden war, das war ein tolles Gefühl. Da bin ich schon ein bisschen rausgeschwebt aus dem Simmeringer Friedhof. Von dem ich übrigens vorher nicht gewusst hatte, dass es ihn gibt! Als ich Simmering gehört habe, hab ich gedacht: Ha, ich ­fange gleich auf dem Zentralfriedhof an! Ich lerne, indem ich mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu den verschiedenen Friedhöfen fahre, sehr viel über die Stadt und ihre soziale Geografie.

Wenn du deinen Beruf in drei Begriffen beschreiben sollst, welche sind das?

Extrem sinnstiftend, kurios lebensbejahend, mich in meiner Biografie wahnsinnig konsolidierend. Als Trauerredner steige ich in die Situation ein, wenn das Traurige schon passiert ist. Ich mache also etwas, das «after the fact» ist. Was könnte ein anderer Umgang damit sein, als dass man diese Menschen, die man verabschiedet, hochleben lässt? Man feiert ihre Biografien und spürt auf, was darin besonders war. Ich artikuliere das auch in den Gesprächen mit den Angehörigen: Mein Zugang ist, das Leben noch einmal zu feiern. Weil: Wir stehen eh an. Wir können mit unseren Köpfen auf den Tisch eindreschen, aber wir werden diesen Menschen nicht mehr zurückholen. Also besuchen wir doch das, was schön war.

Ich versuche mir vorzustellen, wie die Angehörigen dir von den Verstorbenen erzählen. Wird da auch viel gesagt, das du dann nicht verwenden darfst?

Ein kurioser Aspekt ist, dass man in den Gesprächen mit den Angehörigen manchmal fast zum Anwalt der zu Verabschiedenden wird. Aus dem Schmerz heraus werden die Angehörigen oft sehr streng mit ihren Verstorbenen, die Zweifel bekommen Platz, das Negative wird ausgepackt. Zu artikulieren, wie sehr man jemanden liebt, ist nichts, was wir unbedingt gelernt haben.
Ich höre zu, wenn mir die Biografie erzählt wird, und dann gehe ich ins Gestalten. Bei manchen Details darf man sich erlauben, ungenau zu werden, andere darf man hervorheben, auch oder gerade, wenn sie als Tabus gelten. Wir sind in Österreich, Alkoholkrankheit taucht relativ häufig im Lebenslauf auf. Und es wird häufig von den Angehörigen gewünscht, dass das thematisiert wird, dass ich artikuliere, wie die Krankheit den Menschen verändert hat. Das kann entlastend sein. Ebenso dürfen politische Details vorkommen, auch unangenehme: Einmal hatte ich einen Verstorbenen, bei dem mir ganz schnell klar war, der war ein alter Nazi. Das habe ich thematisiert und gefragt, ob wir das so benennen können. Das Tolle war, die Angehörigen hatten noch zu seinen Lebzeiten die Möglichkeit gefunden, mit ihm darüber zu sprechen.
Täuscht mein Gefühl oder wird eine Idee abgelehnt, gilt natürlich, was die Angehörigen sagen. Generell erlebe ich: Jeder Trauerfall ist anders, speziell. Und der Umgang mit den Toten lehrt mich, auch mehr Respekt für die Lebenden zu haben.

Gibt es nicht oft konkurrierende Erzählungen über eine Person?

Da gilt: Der Kunde ist König. Die Person, die bei der Bestattung den Auftrag aufgibt, ist für mich sozusagen das Maß aller Dinge. Deren Version gilt. Natürlich gibt es manchmal Unsicherheiten. Da soll zum Beispiel ein Ehepartner verschwiegen werden, oder ein Kind, zu dem die Beziehung katastrophal war. Ich versuche dann, das der Vollständigkeit halber dennoch sprachlich schlicht abzubilden: Er war auch Vater, sie war auch Mutter … damit es zumindest gesagt worden ist. Auch katastrophale Beziehungen sind wichtige Teile einer Biografie, und die gemeinsame Trauer kann durchaus dazu führen, dass man Ambivalenzen besser aushält.

Bist du als Trauerredner selbstständig?

Ich habe für mich das Modell gewählt, bei einer Genossenschaft angestellt zu sein. Die verrechnet an die Agentur Stockmeier, von der ich meine Aufträge bekomme, die sie wiederum von der Bestattung Wien und einigen privaten Bestattungsunternehmen annimmt. Die Aufträge werden dann recht kurzfristig an uns verteilt – ­heute habe ich zum Beispiel einen Auftrag für eine Bestattung in drei Tagen bekommen. Ich ­bekomme eine Telefonnummer, einen Friedhof und die Uhrzeit der Bestattung, und dann etabliere ich den Kontakt. Nach welchen Gesichtspunkten wer welche Aufträge bekommt, ist mir zwar immer noch rätselhaft, aber ich habe immer das Gefühl, es passt genau. Ich habe sozusagen die USP, nicht ganz das Konventionelle zu liefern.

Was ist eine nicht ganz konventionelle Trauerrede?

Einmal hatte ich einen Verstorbenen, der Reggae so gern gemocht hatte, da habe ich am Grab a cappella Bob Marleys «Re­demption Song» gesungen. So etwas traue ich mich. Aber es ist eine Frage des Gefühls.
Häufig kommt der Wunsch, dass die Verabschiedung nicht so schwer sein soll. Ich kann würdevolle Schwere, aber ich kann, wenn es gewünscht ist, auch mal einen Lacher erzeugen. Traurig ist es ja sowieso! Den Menschen zu transportieren, wie er war – der hat immer eine Gaudi gehabt, die war eine richtige Lachwurzn –, das ist die Kunst. Bei vielen ist zum Beispiel die Tanzschule in der Biografie Thema. Ich habe direkt den Eindruck, ohne die Tanzschulen wären die Österreicher damals ausgestorben! Wenn es dann mit einer Sprachfigur gelingt, zwei Menschen noch einmal miteinander tanzen zu lassen, und du siehst, wie der Person, die noch am Leben ist, kurz die Augen leuchten – das ist schon was! Für mich ist das Schönste, was es zu erzählen gibt, dass ein Leben gelebt wurde.

Wie viele Trauerreden hast du schon gehalten?

Am 19. Dezember werden es vier Jahre, da werde ich dann bei über 1.000 sein. Wien ist halt eine Großstadt. Es gibt sehr viele Kolleg:innen, aber auch genug zu tun. Es gibt, selten, aber doch, Tage, an denen ich drei Verabschiedungen habe, da bin ich am Abend erledigt und kann mir maximal noch Kitsch- oder Zeichentrickfilme anschauen oder Elvis anhören, der Balladen oder Gospel singt. Alles andere wäre zu viel.

Drei Reden pro Tag, das klingt sehr intensiv.

Die Agentur plant zwischen den Aufträgen Friedhofspausen ein, und die sind wichtig. Zum einen ist Routine gut, damit dich nicht jeder Fall umhaut. Aber zu viel Routine darf es auch nicht sein. Eine gewisse Empathie und Emotion muss da sein. Wenn ich merke, ich bin zu sehr auf Autopilot, muss eine Pause her.
Ich schreibe meine Reden im Vorhinein, damit ich sicher gehen kann, dass ich alles bedacht habe. Bis vor nicht allzu langer Zeit war es für meine Kollegen so, dass man sich eine Stunde vorher am Friedhof getroffen hat und mit diesem unmittelbaren Input der Angehörigen quasi aus dem Stegreif mit Mustern, die man schon ­hatte, die Rede gehalten hat. Ich ­musste das notgedrungen zweimal so machen, und ich habe das als furchtbar ­empfunden. Der Effizienzgedanke ist natürlich mittlerweile auch in dieser Branche stark. Man braucht sich nur die Präsentation des ­einen oder anderen Anbieters anzuschauen – sozusagen Abschied zum Download. Natürlich ist die Aufgabe, die die Bestattung Wien zu bewältigen hat, immens. Aber es braucht Fürsprecher, die immer wieder sagen: Halt, das ist ein singuläres Ereignis, das ist das Ende eines Menschenlebens, also slow down! Wir nehmen uns Zeit, wir sind großzügig, wir lassen die Dramaturgie zu, die dieses Ereignis braucht.

Für Armenbegräbnisse, die ja sehr knapp gehalten sind, gibt es keine eigenen Trauerredner:innen. Wäre das nicht ein mögliches Engagement für dich und deine Kolleg:innen?

Ich muss das in der Agentur mal besprechen. Logistisch ist es vielleicht nicht ganz leicht, aber es sind sicher Leute bereit, für den einen oder die andere zu reden. Im skandinavischen Raum geht ein Trauerredner auch dort mit, wo es keine Angehörigen gibt, die sich darum kümmern können. Und ich finde das auch gut so: Jedem Menschen gebührt eine Würdigung am Ende seines Lebens. Begräbnisse für alle!

Wie lange dauert eine durchschnittliche Rede von dir?

Meistens so lange wie ein Musikarbeitertext. Vier- bis fünftausend Zeichen, das macht in ruhigem Tempo rund zehn Minuten. Ein Leben kann man ohnehin nicht vollständig erzählen – es geht darum, sich auf ein paar Kernpunkte zu konzentrieren. So eine Rede ist Anregung fürs Erinnern und Scheitelpunkt von Trauer. Ein Angebot, den Verlust abzuschließen und dem Erinnern danach eine neue Form zu geben.

Gibt es ein klassisches Ende einer Trauerrede?

Wenn die Angehörigen eine Schlussformel haben, übernehme ich die. Ich selbst habe einen Schlusssatz, der so lautet: «In genau diesem Sinne verneigen wir uns in großer Achtung, in großer Dankbarkeit und vor allem anderen in großer ­Liebe vor –» und dann sage ich noch einmal den Namen.

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