Einst Pirateninsel, heute Tourismusziel: Sainte Marie im Indischen Ozean
Mit zeitlichem Abstand werden Piratengeschichten gerne romantisch verklärt. Markus Schauta (Text und Fotos) besuchte eine ehemalige Piratenhochburg und rückt eine Erzählung über «Libertalia» zurecht.
Zwischen den Palmen hängt der Nebel, grau das Meer vor der Insel – Regenzeit im Indischen Ozean. «Kidd» nennt sich das Restaurant im Hafen von Sainte Marie und meint «William Kidd», den Piraten. «Er war Freibeuter, kein Pirat», sagt Augustin. «Als solcher hatte er eine Lizenz zum Kapern. Piraten hatten das nicht.» Ich bestelle noch zwei Rhum arrangé. Der Regen hat nachgelassen, tropft vom Vordach und verdampft in den Pfützen des Hafenboulevards. Am Nachmittag läuft die Fähre ein und spuckt Tourist_innen in erträglichen Mengen aus. Die Anreise auf die Insel im Osten Madagaskars ist beschwerlich. Von der Hauptstadt Antananarivo ist es eine Tagesreise durch den Regenwald, eine weitere nach Norden, die Küste entlang, das Blitzen des Indischen Ozeans zwischen den Palmen, bis Ivongo: ein Hafen am Ende der Welt. Was danach kommt, ist nur mehr mit Allrad befahrbar. Wo sich heute Tourist_innen tummeln, lebten im 17. und 18. Jahrhundert Piraten. Von hier aus raubten sie im Indischen Ozean, fuhren nach Norden bis ins Rote Meer und in den Persischen Golf.
Von Affen und Moskitos.
Unsere Schritte treiben Heere von Krabben in ihre Schlicklöcher zurück. Über einen Steg aus Stein und Holz, links und rechts Mangrovenwald. Baumstämme im Brackwasser, Luftwurzeln, manche von ihnen dünn wie Bleistifte, wenige Zentimeter unter der Wasseroberfläche. Meer frisst Land und Land frisst Meer, je nach Stand der Gezeiten. Ich muss an Monkey Island denken, den PC-Klassiker der 90er. «Affen», sagt Augustin, «hat es hier nie gegeben.» Denn: «Lemuren sind Halbaffen.» Die es übrigens nur auf Madagaskar und vorgelagerten Inseln wie Sainte Marie gebe. Augustin geht mit langen Schritten voran, die Stoffhose eine Nummer zu groß, vom Hip-Back um die Hüften gehalten. Der Steg weicht einem Pfad hügelaufwärts. Augustin bleibt alle paar Meter stehen, deutet auf Ananas, Bananen, Maniok und Süßkartoffel, zupft Blätter ab und zerreibt sie, bis sie zu duften beginnen oder scharfen Geruch verströmen; Naturmedizin bei Schnittwunden, gegen Moskitos, zum Steigern der Potenz. «Die Piraten hatten hier alles, was sie zum Leben brauchten.»
Friedhof mit Aussicht. Oben am Hügel ein grasbewachsenes Plateau mit grauen Grabsteinen, manche schief, andere umgestürzt, von Flechten und Moos bewachsen. Zwischen den Bananenbäumen blitzt die Bucht von Sainte Marie. Ein stiller Ort. Ein Ort, um zu bleiben. Die Piraten hatten Geschmack. Bevor sie nach Sainte Marie kamen, erlangten die Seeräuber als Bukaniere zweifelhafte Berühmtheit in karibischen Gewässern. Der Ausdruck geht auf französische Jäger zurück, die das in den Wäldern Hispaniolas erjagte Fleisch über sogenannten Boucan-Öfen räucherten. Doch irgendwann erschien ihnen Raub lukrativer als Jägertum. «Wer Tiere jagt, kann auch Menschen töten», sagt Augustin. Mit Freibriefen der englischen oder spanischen Krone jagten die Bukaniere Handelsschiffe, die unter den Flaggen der jeweils anderen Reiche segelten. Das Geschäft lief gut. Die Insel Tortuga und Port Royal auf Jamaika wurden im 17. Jahrhundert Stützpunkte der Bukaniere. Doch der Friedensschluss zwischen England und Spanien Ende des 17. Jahrhunderts machte der Freibeuterei ein Ende. Die Kapitäne verlagerten ihren Operationsraum von der Karibik in den Indischen Ozean. Sainte Marie wurde neuer Stützpunkt für Piraten aus aller Herren Länder.
William Kidd.
«William Kidd», sagt Augustin und positioniert sich vor einem verwitterten Denkmal, auf dem der Name des Piraten in Stein geschlagen ist. «Freibeuter, nicht Pirat!» Geboren 1645 in Schottland, ausgewandert nach Amerika; New York City. Heiratet reich, wird Kaufmann. Doch dem Abenteurer reicht das nicht. Er nimmt eine Freibeuter-Lizenz der englischen Krone an. Sein Ziel: französische Handelsschiffe zu kapern. Sein Schiff: die Adventure Galley, ein Dreimaster mit 34 Kanonen und 150 Mann Besatzung. Er kann zunächst einige Schiffe in der Karibik aufbringen. Doch Kaperfahrten sind ein hartes Geschäft. Heuer wird keine bezahlt, Gewinn gibt es nur, wenn Beute gemacht wird. Im Jänner 1698 kapert er ein vermeintlich armenisches Schiff mit wertvoller Ladung: Gold, Silber, teure Stoffe. Das Problem: Der Kapitän des Handelsschiffes ist Engländer. Kidd versucht die Mannschaft zu überreden, die Beute zurückzugeben. Ohne Erfolg. Zwei Monate später erreicht er Saint Marie, will ein Piratenschiff angreifen, aber seine Mannschaft hat längst Gefallen gefunden an der freien Seeräuberei. Sie verweigern den Angriff, ein großer Teil heuert unter der Totenkopf-Flagge an. Kidd wirft das Handtuch. Kehrt zurück nach New York, wo er verhaftet, nach London verfrachtet und 1701 erhängt wird.
Libertalia.
Augustin hockt auf einem umgekippten Grabstein. Unter der Inschrift sind Totenkopf und gekreuzte Knochen eingemeißelt. «Ich glaube, die Bewohner von Sainte Marie mochten die Piraten.» Dann erzählt er von Libertalia, einer Piraten-Republik, gegründet auf den Menschenrechten. Piraten, die an der Seite der Unterdrückten gegen die Unterdrücker kämpfen. Irgendwann im 17. Jahrhundert, irgendwo. Vielleicht auf Sainte-Marie.
«Aber Augustin», sage ich. «Henry Every und Menschenrechte?»
Kapitän Every unternimmt 1695 von Sainte Marie aus eine Kaperfahrt ins Rote Meer, wo er ein Pilgerschiff aufbringt, das von Mekka zurück nach Indien reist. Ein riesiges Schiff, 62 Kanonen, 400 bis 500 Soldaten, 600 Passagiere. Das Schlachten dauerte zwei Stunden, dann schoss eine von Everys Kanonen den Hauptmast des Pilgerschiffes in Trümmer. Was folgt sind Folter und Vergewaltigung und eine Beute von 600.000 Pfund in Gold, Silber und Edelsteinen. Die überlebenden Männer lässt er am beschädigten Pilgerschiff zurück. Die Frauen nimmt er mit, um sie später ins Meer zu werfen oder in die Sklaverei zu führen. «Ein schlechter Mensch», sagt Augustin. «Und Libertalia eine Utopie.»
Die Sonne sticht.
Aus dem Schatten eines Bananenbaumes blicke ich auf die Bucht. Sie ist annähernd rund mit einer kleinen, vom Wald bewachsenen Insel in der Mitte. Dort lebten, liebten und soffen einst die Piraten. L’Île aux Forbans, Insel der Freibeuter, nennen die Einheimischen sie noch heute. «Sie haben auf der Insel keine Spuren hinterlassen», sagt Augustin. «Außer einigen nachtaktiven Lemuren gibt’s dort nichts zu sehen.» Um 1720 war es vorbei mit den Piraten auf Sainte Marie. Handelsschiffe, die in Konvois segelten und Piratenjäger machten ihnen das Leben schwer. Sie gaben die Piraterie auf oder zogen weiter.
Was bleibt, sind die Legenden von vergrabenen Schätzen und eine Hotelanlage, die den Namen Libertalia trägt. Nach einem Sundowner mit Augustin fahre ich mit dem Tuck-Tuck zurück ins Hotel. Der schwere, süßliche Duft von Orchideen hängt in der Nachtluft. Die ehemalige Pirateninsel ist ein dunkler Fleck am schwarzen Wasser der Bucht. Die Lichter gingen vor 200 Jahren für immer aus.