Auszug eines West-Coast-Trips:
Los Angeles ist nicht gleich Los Angeles. In dem jungen Moloch, wo nichts so ist, wie es scheint, blüht die Vielfalt. Der Autor Clemens Marschall wurde auf einer Etappe seiner Forschungsreise durch die USA vom Fotografen Kurt Prinz begleitet. Erstgenannter legt nun ein Buch darüber vor (siehe unten), Letztgenannter präsentiert Aufnahmen der Reise in einer Ausstellung.
Foto: Kurt Prinz
Topanga Canyon: eine wüste Berglandschaft westlich von Beverly Hills. Man fährt über Schotterstraßen, auf denen Koyoten und Luchse herumspazieren, bis man aus der Ferne Eisengebilde, riesige Skulpturen und eine Dampfwalze erspäht: der Spielplatz des Performance- und Konzeptkünstlers Chris Burden, der seit Anfang der 1970er für Furore sorgt. «1981 hab ich mir hier ein Stück Land gekauft», erzählt Burden im Dezember 2012, als wir ihn besuchen durften. «Für eineinhalb Jahre habe ich mit meiner Frau in einem Zelt gelebt, während wir unser Haus gebaut haben. Als wir kamen, gab es hier keine Straße und wir waren ganz alleine. Das war ideal, weil wir machen konnten, was wir wollten. Das Gute ist: Es fühlt sich nach wie vor an wie auf dem Land, aber es gehört zu L. A. In L. A. ist nichts ist so, wie es scheint.»
Burden lacht viel und beendet seine Sätze gern mit einem saloppen «you know». Er ist allerdings auch jener Künstler, der sich mit einem Gewehr anschießen ließ; der sich auf einem Auto kreuzigen ließ; der Architekturkritik so auslegte, dass damit tatsächlich jenes Museum, in dem er ausgestellt wurde, zerstört werden konnte. Burden schaffte es immer, aus scheinbaren Steigerungszwängen auszubrechen und die Erwartungshaltungen des Publikums nicht zu enttäuschen, sondern spielerisch zu umgehen. Oft saß er stundenlang, einen Joint nach dem anderen rauchend, auf einem Sessel und dachte darüber nach, was er als Nächstes anstellen könnte. Seine Arbeiten wirken dann allerdings – trotz anarchistischer Tendenzen – nüchtern, analytisch und kontrolliert. Burden hatte zwar exzessive und drogeninduzierte Phasen, aber seine produktiven waren die nüchternen.
1992 fand in Los Angeles die Ausstellung «Helter Skelter» statt – benannt nach jenem Beatles-Song, der Charles Manson als Inspiration für seine abstrusen Verschwörungstheorien diente, die letztlich mit den Ermordungen von u. a. Sharon Tate sowie Leno und Rosemary LaBianca endeten. Die bis heute legendäre Ausstellung präsentierte Künstler wie Chris Burden, Mike Kelley und Paul McCarthy und bedeutete eine enorme Wertsteigerung für die Performance-Kunst-Szene in Los Angeles. «Ja, der Ausstellungsname kam von Charlie Manson. Der Kurator Paul Schimmel wollte auch zu ihm ins Gefängnis und dort einen Vortrag halten. Ich hab zu ihm gesagt: ‹Paul, du hast zwei Kinder, oder? Überleg dir das lieber. Du willst kein rotes Tuch für Manson sein.›», lacht Burden. «Man sollte Manson nicht provozieren, das bringt nur Ärger. Der Typ ist verrückt, der kann beißen, und er hat auch Freunde, die nicht im Gefängnis hocken. Aber die Ausstellung war sehr erfolgreich: schlechte Presse, die Leute hatten also was zu reden.»
Seine grenzgängerischen und gefährlichen künstlerischen Äußerungen hat Chris Burden wie durch ein Wunder überlebt, doch erst letztes Jahr starb er im Alter von 69 Jahren. Keine außer Kontrolle geratene Inszenierung, sondern so simpler wie unnachgiebiger Hautkrebs.
In der Wüste mit John Aes-Nihil
Wir fahren vom Topanga Canyon zwei Stunden nördlich von L. A., in die Mojave Desert, wo der exzentrische Avantgarde-Blueser Captain Beefheart zu der Figur geworden ist, die er Zeit seines Lebens repräsentiert hat. Dorthin ist nun John Aes-Nihil gezogen: ein obsessiver Archivist menschlicher Nachtschattengewächse. Jahrzehntelang hat er in L. A. gewohnt, doch die Wüste bietet dem Einzelgänger mit ihren finanziellen und realen Freiheiten das, was er braucht, und dazu gehört auch Platz für seine tausenden Videodokumente, Tonaufzeichnungen, Fotos, Bücher und Kunstwerke, die im Zusammenhang mit Serienmördern, Verschwörungstheorien und gesellschaftlicher Devianz in sämtlichen Schattierungen stehen. Er hat weniger Berührungsangst mit Charles Manson als Chris Burden, traf ihn, interviewte ihn – und lebt noch immer. Zwischen improvisierten Schiffsfriedhöfen und Parkplätzen für Flugzeuge im Nirgendwo hat er sich arrangiert. «Die Nachbarin da drüben ist so alt, sie weiß gar nicht mehr, wie alt», sagt er leise. In seinem Garten steht ein alter Bus der Manson Family, und er hat auch die «Manson Family Movies» gedreht, die zeigen, wie die abstruse Kommune gelebt haben könnte.
Zu ihm kommen so verschiedene Künstler wie Kenneth Anger («Scorpio Rising»), Crispin Glover («Zurück in die Zukunft») und Marilyn Manson, wenn sie auf der Suche nach Außergewöhnlichem sind. John Aes-Nihil ist der Mann im Hintergrund, der extrem langsam spricht und die Pausen zwischen einzelnen Sätzen und Wörtern oft ausstrapaziert. Das ist wohl auch das Resultat seines Lebensstils, das geographische und psychedelische Reisen beinhaltet. Als Hippie darf man ihn aber keinesfalls bezeichnen. John Aes-Nihil ist eher der dunkle Schatten der Blumenkinder. «Manches von den Hippies war interessant, vieles dumm. Ich würde sagen, wir haben die Hippies benutzt, zum Autostoppen, und sie gaben uns Essen. Lass es mich so formulieren: Als ich meinen Trip begann, hatte ich $ 40 – und zwei Jahre später $ 20.» Sein mehrjähriger Trip durch die USA begann um 1970 herum. John Aes-Nihil war sich schon damals der Situation um die Manson Family, die 1969 ihrer Verbrechen überführt worden war, durchaus bewusst. «Ich habe schon damals mit den Leuten gestritten, die sagten: ‹Charles Manson hat sie alle dazu gebracht, andere Menschen zu töten!› Dem stimmte ich nicht zu. Ich fragte sie: ‹Wenn dir jemand sagt, du sollst jemanden töten – machst du das?› Und zur gleichen Zeit war der Vietnamkrieg: Du ziehst dir eine Uniform an, und jemand sagt dir, du musst Leute umbringen – und sie machten das, und das wurde honoriert. Ich wäre niemals in den Vietnamkrieg gegangen.» Stattdessen ging er aufs Art College und entkam so dem Kriegsdienst.
Zu seinen Gefährten gehört auch Johnnie Baima, ein Travestiekünstler, dem er vor Jahren den Namen «Goddess Bunny» gegeben und damit eine neue Figur zum Leben erweckt hat. Marilyn Manson war davon so angetan, dass er sie seinem Video zum Song «The Dope Show» eingesetzt hat. «Sie ist verrückt, aber wir sind nach wie vor in Kontakt», räuspert sich John Aes-Nihil. «Sie lebt jetzt in einer Mischung aus Hospiz, Altersheim und psychiatrischer Anstalt. Besucht sie, sie freut sich. Ich bezweifle, dass sie da je wieder rauskommt.»
Aber wir kommen rein.
Jesus und die Schwulen
Nach einer kalten Nacht in der Wüste brausen Kurt Prinz und ich nach Inglewood, in den Süden von Los Angeles. Goddess Bunny hat uns die Adresse ihres Heimes gegeben, in dem zahlreiche Schatten ihrerselbst sediert und in Zeitlupe durch die Gänge wandern. Nachdem uns der Portier die Zimmernummer der Goddess gegeben hat, klopfen wir an, und hören eine rauchige Stimme: «Come in!» Trotz strengen Rauchverbots sitzt die an einer polio-ähnlichen Krankheit leidende Goddess Bunny in ihrem Rollstuhl und pofelt durch die offene Balkontür: klein, etwas verwachsen und mit Kugelbauch, aber topgestylt mit Perücke und protzigen Ohrringen grinst sie schelmisch vor sich hin. Der Glamour von Hollywood lebt heute im Hospiz. In ihrem Zimmer mit Krankenhausbett, Spiegel und Laptop hängen Fotos von ihr selbst – als Mann und als Frau – und ein Gemälde von Jesus. «Die meisten denken, dass die Schwulen Jesus nicht leiden können. Ich sag dann immer: ‹Hallo?! Ich bin religiöser als ihr!› Ich hab in der Bibel die Stelle gefunden, wo steht, dass es ok ist, schwul zu sein. Lies nach, Matthäus 19! Nur als ich meiner Mutter mit 18 gesagt habe, dass ich als Frau leben möchte, hat sie mir meine Nase gebrochen. Egal, wir können jetzt mit dem Interview anfangen!», ruft Goddess Bunny – aber das ist eine andere Geschichte …
Info:
Kurt Prinz zeigt eine Woche lang Fotos, die er auf Recherche mit Clemens Marschall an der West Coast gemacht hat. Vernissage am 5. März, 20 Uhr, mit Möström + Yay Nay + DJ Brigitta Bödenauer; Finissage am 12. März, 20 Uhr, mit Maja Osojnik + DJ Shilla Strelka
im «Au», Brunnengasse 76, 1160 Wien
www.viennau.com
www.kurtprinz.at
Auf der anderen Seite gelandet
Die im Artikel erwähnte Goddess Bunny (Johnnie Baima) ist eine von rund 40 Interviewpartner_innen, die Clemens Marschall für sein Buch «Avant-garde from Below: Transgressive Performance from Iggy Pop to Joe Coleman and GG Allin» befragte. Den meisten konnte er für das Interview gegenübersitzen, was insofern bemerkenswert ist, weil sich darunter etwa ein illustrer Herr wie Monte Cazazza befand.
Dieses Buch, das in Sachen Format und Gewicht in Richtung Ziegel geht, muss als Kür zur Pflicht Dissertation mit dem Titel «Avantgarde von unten:
Ungezügelte Aufführungsformen vom Proto-Punk der 1960er bis heute» betrachtet werden. Clemens Marschall vereinigt in sich den Wissenschaftler, den (freien) Mitarbeiter bei «seriösen» Medien wie der «Wiener Zeitung» (aktuelle Artikelserie «Unbekannte Praterg’schicht’n») oder Ö1, und den Nerd «Rokko», der das leicht durchgeknallte Magazin «Rokko’s Adventures» herausgibt und völlig durchgeknallte Leute in den Vereinigten Staaten aufsucht.
Mit «Avant-garde from Below» schaut sich der Autor, salopp gesprochen, eine (extreme) Epoche der amerikanischen Performancekunst an, wo noch weiter an der Schraube gedreht wird, die der Wiener Aktionismus setzte, und markiert diese anhand der Figuren Iggy Pop, Joe Coleman und GG Allin bzw. des Zeitraumes zwischen der Hippiebewegung und 9/11. Dieses fundiert beschriebene und erklärte Gerüst wird mit den eingangs erwähnten zahlreichen Interviews von Personen aus der Szene aufgepimpt, die aber mitunter sehr ins (private) Detail gehen, wie bspw. die Drogen-Biografie eines Sam McBride aka Sammytown. An solchen Stellen des engagiert und aufwendig verfassten Buches, wäre wohl etwas weniger etwas mehr gewesen. Nichtsdestotrotz soll dieses Werk für an Subkultur und Grenzüberschreitung (aber nicht im esoterischen Sinne verstanden, sondern George Bataille anvisierend) Interessierte in der einschlägigen Abteilung des Bücherschrankes landen. Zumal es auch, trotz oder gerade verstörender Inhalte wegen, mit einer klaren und schönen Linie gestaltet ist und nicht mit wunderbaren Fotos (auch von Kurt Prinz) geizt: angefangen von unverdächtigen Porträtaufnahmen bis hin zu GG Allin in (nicht jugendfreier) Action …
«Avant-garde from Below: Transgressive Performance from Iggy Pop to Joe Coleman and GG Allin» (Auf Englisch verfasst!)
409 S., 27 Euro
Rokko’s Adventures, Wien 2016
Zu beziehen im (Musik-)Fachhandel oder über
www.rokkosadventures.at