Lieber kein Schutz vor dem TodesengelArtistin

Kunstprojekte für Ausgeschlossene. Ein Bericht aus Jerusalem

israel.jpgReligiöse Bettler und fromme Obdachlose bevölkern die heilige Stadt Jerusalem. Kinder aus der Westbank und Hebron tragen Einkaufskörbe, packen Gemüse oder verkaufen Feuerzeuge, weil ihre Eltern ihr Gebiet nicht verlassen dürfen. In der Galerie Barbur in Jerusalem wurden Kunstprojekte für arabische Straßenkinder durchgeführt. Eine Reportage von Kerstin Kellermann.

Im 24-Stunden-Shop auf der Yaffa-Straße in Jerusalem wühlt ein Mann in abgerissenem Anzug in einem Berg kleiner Kupfermünzen, den er neben der Kassa abgelegt hat. Die beiden Kassiererinnen schauen ihm etwas ängstlich zu. Zwei Packerl Taschentücher will der höfliche, rothaarige Sandler kaufen und die Verkäuferin hat gleich die Tafeln Schokolade nachgezählt, die neben den Taschentüchern gestapelt sind. Plötzlich überreicht der Sandler in einer großen Geste mit Verbeugung und Lächeln der an der Kassa sitzenden jungen Frau fünf Shekel (ein Euro). For your Happiness!, ruft er und läuft davon. Die jungen Frauen kriegen einen Lachanfall. For my Happiness, wiederholt die eine ein paar Mal, während die andere dem Mann hinterhereilt, um ihm sein Geld zurückzubringen.

Jedes Jahr stranden in Jerusalem religiöse Menschen verschiedener Konfessionen und Glaubensrichtungen. Frauen halten sich für Maria, die Mutter Gottes, und entblößen ihre Brust auf der Straße. Um die Hundert werden jährlich mit dem so genannten Jerusalem Syndrom ins Kfar-Schaul-Krankenhaus, der staatlichen Nervenklinik, eingeliefert amerikanische ProtestantInnen gelten als besonders anfällig. Der Unterschied zwischen ihrem imaginierten Jerusalem und der realen lebendigen Stadt wühlt sie auf. Um ihre Enttäuschung zu überspielen, flüchten sie in einen Wahn. Jeremia war einer der ersten, die forderten, dass jeder, der sich in Jerusalem wie ein Prophet gebärdet (Jer 29,27), in Haft genommen wird, schrieb der Journalist Amos Elon.

An der Klagemauer


Wollen Sie nicht mehr geben?, fragt der stolze Bettler mit Kippah und Löckchen auf der breiten Treppe, die hinunter zur Klagemauer führt. Ich sammle nicht für mich, sondern für arme Familien. Unter den Arm hat er sich eine große gläserne Dose geklemmt, die bis oben hin voll ist mit Dollarscheinen. Für eine Spende schenkt er rote Woll-Fädchen her. Zwei orthodoxe Juden mit Hut und Anzug verkaufen Glücksbringer aus einem Plastiksackerl. Wie von Zöllnern oder Wegelagerern wird auf jedem Treppenabsatz bis hinunter um Geld gefragt. Weit ist der Blick über die Hügel, in der Ferne leuchtet die Kuppel des Felsendoms auf dem Tempelberg, unten stehen die Betenden vor der Mauer. Über dem Berg wirken die dunklen Wolken so, als ob eine freundliche Macht quer über dem Geschehen thront, obwohl hier in 3000 Jahren Ströme an Blut vergossen wurden.

Nach der Sicherheitskontrolle, die wie viele der Sicherheitsjobs von äthiopischen Juden und Jüdinnen durchgeführt wird, steht man auf der breiten, abschüssigen Rampe, die hinunter zur Klagemauer, zur berühmten Westmauer führt. Hier wurde 1968 im Auftrag von Verteidigungsminister Moshe Dayan ein dicht besiedeltes Viertel abgerissen, seine moslemischen BewohnerInnen hatten drei Stunden Zeit, um auszuziehen. Im Frauensektor, der kleiner ist als der der Männer, bettelt eine Frau mit rotem Leiberl Touristinnen an, ihre Kinder hüpfen fröhlich um sie herum. Dicht gedrängt stehen Frauen direkt an der Mauer, während über ihnen Spatzen in den von der Sonne beschienenen alten Steinen sitzen. Rückwärts geht eine Reihe Mädchen von der Wand weg. Oben bahnt sich ein alter, schwarz gekleideter Mann mit Bart laut schimpfend seinen Weg durch eine afrikanische Touristengruppe. In dem bunten Gemisch an Menschen, die die Altstadt bevölkern, lösen sich Zu- und Einordnungen auf. Bewertungen und Werturteile verschwinden zwischen den hupenden Autoschlangen und weiß leuchtenden Steinhäuschen vor den Toren. Es bleibt allein der optische Eindruck.

Die Körbe-Kinder


Am Yaffa-Tor kletzelt ein Junge mit eifrigem Gesicht ein Plastiksackerl mit den Fingern auseinander. Er steht neben einem offenen Wagen, auf dem Gebäckkringel verkauft werden.

Im Mahane-Yehuda-Markt tragen arabische Jungen den Leuten die Einkäufe nach Hause oder packen Gemüse ein oder aus. Sie stammen aus geschlossenen Gebieten (closed neighbourhoods), wie der Westbank. Ihre Eltern dürfen nicht rauskommen, um selbst arbeiten zu gehen. Sie werden die Körbe-Kinder genannt, erzählt der Programmierer Denis Mashkevich, der Fotoworkshops mit den Acht- bis Vierzehnjährigen durchführt. Das sind Kinder von Arabern mit permanenter Aufenthaltsgenehmigung, die dem Staat egal sind. Sie unterstützen ihre Familien mit jeder Art von schlechten Jobs. Zur Schule gehen sie offensichtlich nicht. Dass Kinder aus Hebron in der Altstadt auch Feuerzeuge um zwei Shekel verkaufen, erzählt später Adina, die Djane Latifa Punk. Mit Kindern aus Hebron konnten aber keine Workshops gemacht werden, obwohl es Denis und seine Gruppe immer wieder versuchten. Es war nicht wirklich möglich, sie zu gewinnen.

Denis ist einer der Gründer des Stadtteilzentrums Barbur, das ursprünglich eine Galerie werden sollte, damit nicht alle AbsolventInnen der Jerusalemer Kunstuniversität Bezalel nach Tel Aviv abwandern. Wie baut man eine Szene für sich selbst? Du tötest dich selbst professionellerweise, wenn du als Künstler in Jerusalem bleibst, sagt Denis, der dreimal betont, selbst kein Künstler zu sein, und seine Tage mit seinem Laptop im Lokal Nocturno verbringt. Die KünstlerInnen Masha Zusman, Hagit Keysar, Yanai Segal, Avi Sabah und Denis lernten 2005 Uri Amedi kennen, einen Sozialarbeiter, der rührig Dinge in Angriff nimmt, um die sich eigentlich die Stadt kümmern sollte. Örtliche Parks, örtliche alte Leute oder die Wiederbelebung des alten Marktes, des Shuk im Viertel Nachlaot. Amedi will das Zentrum der Stadt entwickeln, er interessiert sich für die Community, die Gemeinschaft. Er stellte auch einen Sozialarbeiter an, der mit den Marktstandlern verhandelte, um die Körbe-Kinder z. B. für Ausflüge freizukriegen. Uri Amedi vertraute der Gruppe Räumlichkeiten in einem Kindergarten an, die sich schnell zu einem Treffpunkt entwickelten.

Eingesperrte Stadt


Das Zentrum der Stadt sollte wieder belebt werden, denn als die Altstadt jordanisch war und es Schießereien gab, siedelte der Staat z. B. in Musrara Juden aus Marokko an. In Nachlaot lebten aber schon lange vor der Staatsgründung Israels jemenitische Juden, eine schwache und arme Bevölkerung, berichtet Denis. Wir befürchteten, dass sich die Menschen nicht für Kunst interessieren, und begannen mit linken Kinofilmen. Die ultraorthodoxen Ashkenasi in Nachlaot, die in geschlossenen Enklaven leben, denken sowieso, dass wir uns im Krieg befinden, also zeigten wir einen Dokumentarfilm, in dem es darum geht, was mit den Leuten im Kopf passiert, wenn eine Stadt geschlossen oder verschlossen wird. Nach zwei Monaten des Eingesperrtseins werden neue Killer produziert. Heftige Diskussionen mit Rechten folgten, aber die Leute kamen immer wieder, zu neuen Filmen und Diskussionen, zu Ausstellungen und in letzter Zeit auch zu Workshops. Die bloße Tatsache, dass du dein Kulturzentrum in diese schwierige Nachbarschaft setzt, bedeutet, dass du dich mit ihr auseinander setzen musst. Sonst würden sie dich rausschmeißen und total feindlich sein. Wir erwarteten, dass die Leute unser Haus abfackeln würden, und es drohten wirklich radikale Religiöse damit, einen Gartenschuppen abzubrennen, weil wir ein Fensterkreuz aus Holz befestigten, das wie ein religiöses Kreuz aussah. Denis weigerte sich auch, an der Tür des Zentrums ein Metsusah anzubringen, ein Schutzsymbol: Vor 2000 Jahren waren die Juden Sklaven in Ägypten, der Pharao nutzte sie als Sklavenarbeiter für den Pyramidenbau aus. Dieses Türzeichen bedeutet, dass der Todesengel nicht in dieses Haus geht, sondern nur in die der Ägypter. Mit dem Metsusah wäre Barbur nur ein Haus für Juden gewesen und nicht für alle anderen, die ebenfalls zu uns kommen.

Mit Dank an Karin Schneider und Friedemann Derschmidt vom Rites Institute