Lieder schützen nicht vorm SterbenArtistin

Ein Nachruf auf Martin, der mehr Bühnen als Städte kannte

Good bye, Martin Österreicher. Seine Hagerkeit, die Schelmenhaftigkeit seiner Erscheinung, die markante Glatze und ein paar Zentimeter unter ihr die ­John-Lennon-Brille sorgten oft für Irritation: Ist Gandhi beim AUGUSTIN gelandet? Ein Nachruf von Robert Sommer

Foto: Mario Lang

Was wird dem Martin alles nachgesagt? Alles, was alle über ihn sagen, ist Nachgesagtes. Denn Martin (Familienname: Österreicher) kann nichts mehr richtigstellen. Das Bühnen-«Springinkerl» vom Stimmgewitter Augustin, wie ihn der AUGUSTIN-Ressortleiter für musikalische Angelegenheiten, Mario Lang, immer vorzustellen pflegte, ist Mitte März nach einem Schlaganfall gestorben; er muss jetzt damit leben, dass ihm besonders viel nachgesagt wird, denn er war ein Mann ohne Eigenschaften, und wer Musil einigermaßen kennt, weiß ja, dass das in Wirklichkeit bedeutet, unzählig viele Eigenschaften zu besitzen.

Dem Martin wird zum Beispiel nachgesagt, dass er schon im Bauch seiner Mama gesungen hat und dass er auch sonst voller Kompetenzen war, die seine Umgebung ins Staunen brachten, aber unvermarktet blieben: Er war T-Shirt-Designer, er wagte, Getränke zu mixen und dann auch appetitlich zu sich zu nehmen, wo jede_r andere vor unvorhersehbaren chemischen Reaktionen zurückgeschreckt wäre, er konnte uns sofort die Zahl der Buchstaben nennen, die in einem Wort in Rekordlänge steckten, er war als hyperbarocker Schriftenmaler der Geburtstagskarten-Verantwortliche des Stimmgewitters.

Jodeln wie die Forellen.

Dem Martin werden aber auch ambivalentere Fähigkeiten nachgesagt: Wenn er was erzählte, erzählte er es so ausufernd, dass er nur durch den kollektiven Aufschrei seines Auditoriums zu stoppen war: «Zum Punkt! Zum Punkt!» Die Geschichte über das Forellenjodeln ist redaktionell gekürzt, darum kann sie hier mit ihrer ganzen Substanz wiedergegeben werden. Martin fing – weil er sich immer darauf freute, dass seine Zuhörer_innen nur «Bahnhof» verstanden – mit der Frage an: «Wisst ihr eigentlich, was ein Forellenjodler ist?» Bahnhof. Und dann stieß Martin mit einer zweiten Frage nach: Ob es nicht an ein Wunder grenze, dass die Stimmgewitter-Mitglieder so textsicher seien, auch bei einem 90-Minuten-Programm. Die Lösung des Rätsels sei – der Forellenjodler. Durch raffinierte Bewegungen mit dem Mund täuscht der Sänger, wenn er ein Blackout hat, die Textsicherheit einfach vor. Er verriet jedem und jeder, der oder die es nicht wissen wollte, dass es kein Stimmgewitterkonzert ohne Forellenjodler gebe und dass er beileibe nicht der einzige sei, der diesen Trick beherrsche.

Gesangsfreudig bis zum letzten Ton. Martin ­Österreicher war kein Freund des kapitalistischen Hochleistungsfetischs. Vielleicht ist hier eine Ursache dafür zu finden, dass er keine seiner Spezialfähigkeiten zur Ware machte. Gern erzählte er über die beiden Non-Profit-Unternehmen, die ihm nach einer Langzeitarbeitslosigkeit zur Chance verhalfen, dem Leistungsterror zu entkommen und dennoch maximal ungedemütigt zu überleben. Die Rede ist vom sozialökonomischen Betrieb RUSZ, einem gemeinnützigen Reparaturzentrum, und dem Straßenzeitungsprojekt AUGUSTIN. Dass er dort genau richtig war, wusste er schon in der ersten Sekunde der Begegnung. Das Erste, was ihm im Vertriebsbüro auffiel, war ein selbstgemachtes Plakat: «Gesangesfreudige VerkäuferInnen gesucht!»

Wo Lieder sind, ist Böses rar, das wusste Martin aus dem Lexikon für deutsche Redewendungen. Zwar, die Schrift auf dem Plakat war schrecklich unbarock, also gar nicht nach seinem Geschmack. Aber Martin musste ein Auge zudrücken, um die Chance zu erhalten, in den «Musikbetrieb» hineinzuriechen. Dass ihn diese Reise von seinem geliebten Wienerlied wegbrachte und zum ersten mitteleuropäischen Senioren-Punk-Experiment führte, konnte er damals noch nicht ahnen. Er musste aber später zugeben: Mit seinem «Schdöds meine Ross in Schdoi» war die Neigung zur Rampensauigkeit nicht auszuleben …

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