Linke Seite Ostseevorstadt

Mit dem Faltrad von Danzig nach Riga

Geschichte erradeln und wunderbare Landschaften erleben. Die Etappe Danzig – Riga war einst Teil des Eisernen Vorhangs und durchmisst inzwischen vier Staaten, die sich allesamt eine neue Identität verpasst haben oder diese noch suchen. Angela Traußnig und Mario Lang (Text, Fotos) haben ihre Räder entfaltet, sind in Polen gestartet, in Lettland gelandet und haben dazwischen unzählige Male die Auslöser ihrer Kameras gedrückt.Um den Neptunbrunnen am Langen Markt drängen sich immer dichter werdende Tourist_innenströme, auch der Hafen der Hanse-Stadt Gdańsk (Danzig) wächst unaufhaltbar, sodass sogar die Hamburger_innen Kopfweh bekommen. Nach Überwindung der touristischen Hotspots und einiger Baustellen wird es ruhiger und die Tour entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs kann beginnen. Nach der Überquerung der Wisła (Weichsel), die Richtung Meer drängt, bietet sich bald darauf jener Blick, der die ganzen 700 Kilometer auf dem Weg nach Riga immer in Greifweite bleiben wird: die Ostsee.

Die polnische Etappe ist die kürzeste am Weg zum Ziel und die Frische Nehrung, eine Landzunge zwischen Polen und Russland, ein erster Appetizer. Die Verkehrsmittel abseits des Hauptvehikels sind vielfältig, ohne Fähren kommt der Radler nicht weit. Die russische Exklave, das Kaliningrader Gebiet, erscheint auf der Radkarte. Die Visum-Hürden wurden bereits in Wien genommen, und so wird der Grenzübertritt zur leichten Übung. Das verschlafene Mamonovo nimmt einen in Empfang. Eine unspektakuläre Strecke und die stark befahrene Straße nach Kaliningrad rechtfertigen den Umstieg – dem Faltrad sei Dank – auf den öffentlichen Bus. Kaliningrad, einst als Hongkong Russlands gehandelt, kränkelt aktuell an den Sanktionen der EU. Im zwischen Dominsel und Plattenbauten eingebetteten «Fischdorf» hingegen floriert das Geschäft mit Bernstein und Bier. Abseits dieses Wiederaufbauprojekts werden die Straßen holpriger, die Gastronomie verschwindet vom Erdboden und in der Nähe des Bahnhofs steht einsam und verlassen ein vom Sockel gefallener Held: Wladimir Iljitsch Lenin.

Zurück zur Natur bietet die Kurische Nehrung auf 98 Kilometern Landschaft pur. Die wenige Kilometer breite Landzunge trennt das Haff von der Ostsee. Mittig ein Asphaltband. Vereinzelt kleine Dörfer, viel Wald, Wildschweine und endlose Dünen. Die Grenze zu Litauen befindet sich mittig auf halber Strecke. Mit dem Wiedereintritt in die Union wirkt alles ein wenig touristisch aufgeräumter. Auch Litauen ist nur ein kurzes Abenteuer. Eine Fähre verbindet die Nehrung mit dem Festland und ein nahezu perfekter Wald-Radweg führt über Klaipėda und das Seebad Palanga nach Lettland.

Mit dem nördlichen baltischen Nachbarn wird die Reise wieder spannender. Ost-Asphalt und Baustellen machen das Sitzfleisch mürbe. Als erste Ortschaft nimmt einen das verschlafene Rucava in Empfang. Wirtshaus gibt es keines, dafür ein privates Instrumentenmuseum, praktisch im Nirgendwo. Die Straße rumpelt weiter der Hafenstadt Liepāja entgegen. Regiert am Rande der Stadt noch der Plattenbau, besticht das Zentrum mit romantischen Holzbauten. Von der Tourismusmaschinerie noch nicht entdeckt, präsentiert sich Liepāja als ein echtes Schmankerl. Über eine drehbare Eisenbrücke führt der Weg nach Karosta, zum ehemaligen Stützpunkt der russischen Ostseeflotte und heutigen Stadtteil von Liepāja. Ein Wahrzeichen von Karosta, der orthodoxe Dom St. Nikolaus, versteckt sich inmitten einer ehemals sowjetischen Plattenbausiedlung.

Das asphaltierte Band zieht weiter Richtung Kap Kolka, der nördlichsten Landspitze der Halbinsel Kurland und Grenze zwischen Ostsee und der Bucht von Riga. Mit dem Verlassen der Hafenstadt Ventspils verabschiedet sich auch die Zivilisation: links der Straße Bäume, rechts der Straße Bäume und wie immer links außen (von Bäumen verstellt) die Ostsee. Die Verkehrsdichte nimmt schlagartig ab und die Holperpiste wird zur bestens befahrbaren Landstraße. Erst kurz vor dem Kap kehrt das Leben in Gestalt von Tourist_innenbussen aus Riga zurück. Die letzten 160 Kilometer begleitet einen die Bucht von Riga. Als quasi Vorzimmer von Riga breitet sich kurz vor dem Ziel der Kurort Jūrmala mit seinen 30 Kilometern Badestrand und unzähligen Villen in Holzbauweise aus. Jetzt ist es nur noch ein Katzensprung bis zur Vanšu-Brücke, welche die Daugava (Düna) überspannt und den klassischen Schmuckkästchen-Blick auf die Altstadt von Riga freigibt.

Rund 600 Kilometer entlang des ehemaligen Eisernen Vorhangs sind abgeradelt, das letzte Bier getrunken, und die Räder wandern zusammengefaltet in den Bauch des Flugzeuges Richtung Wien.

Info:

bikeline Radtourenbücher

Europa-Radweg «Eiserner Vorhang»

Verlag Esterbauer

www.esterbauer.com