Luo Song Tangtun & lassen

Illustration: Thomas Kriebaum

Speakers' Corner (10. April 2024)

Eines meiner Kindheitslieblingsgerichte war die Luo Song Tang von meinem Gonggong (Opa mütterlicherseits), eine wahnsinnig ­gehaltvolle Geschmacksexplosion in Form einer Rindssuppe mit Tomaten, Kraut und Kartoffeln. Sie war etwas Besonderes, Xi Can, ein Gericht aus der sogenannten westlichen Küche, mit der in ­China früher meist die russische Küche gemeint war. Meine Tante war die einzige ­andere Person in unserer Familie, die sie kochen konnte. Einmal hat sie mir anvertraut, dass das ­Geheimnis der Suppe eine ganze Butter sei.
Je älter ich wurde, desto mysteriöser wurde dieses Gericht für mich, denn nirgendwo sonst ist es mir jemals untergekommen und der Name hat sich so exotisch angehört, dass ich mich gefragt habe, ob meine Familie ihn einfach erfunden hat.
Als mir dann jemand erzählt hat, dass es sich um einen Borschtsch handeln muss, dachte ich, das Rätsel sei gelöst. Aufgeregt probierte ich das osteuropäische Original und musste enttäuscht feststellen, dass sie absolut gar nichts mit einer Luo Song Tang gemein hatte.
Es ist nun 20 Jahre her, seitdem ich dieses Geschmackserlebnis das ­letzte Mal am Esstisch meines Gonggongs hatte; ich habe schon längst die ­Suche nach der Herkunft dieses Gerichts aufgegeben – und siehe da: ein Instagram-Post über die europäisch ­inspirierte ­Küche Shanghais der 1920er-Jahre! «Luo song» war die phonetische Übersetzung von «Russian», und weil es keine Roten Rüben in China gab, wurden sie durch Tomaten ersetzt – also doch Borschtsch! Danke, Internet, für dieses Puzzlestück!

Hier schreiben abwechselnd Nadine Kegele, Grace Marta Latigo und Weina Zhao nichts als die Wahrheit.