«Lyrik ist ein ­einzigartiges Werkzeug»Artistin

Udo Kawasser ist Schriftsteller, ­Übersetzer, Tänzer und Choreograph (Foto: © Jana Madzigon)

Gedichte gelten als altmodisch oder unverständlich. Verschwunden sind sie dennoch nicht. Ein Gespräch mit dem Schriftsteller Udo Kawasser über das Besondere an Lyrik, ihren Stellenwert und das Lyrikfestival Poesiegalerie.

Die Poesiegalerie ist eine (Online-)Plattform für «zeitgenössische Dichtkunst in Österreich» und auch ein Festival, auf dem sich drei Tage lang alles um Lyrik mit Österreich-Bezug dreht. Udo Kawasser, der sich selbst als Dichter definiert, initiierte die Poesiegalerie vor sieben Jahren.

Wie sind Sie zur Dichtung gekommen?

Udo Kawasser: Es war ein langer Prozess, der in der späten Pubertät über die Entdeckung der Literatur als Denkraum als auch Lebensraum begann. Das ist während des Studiums – ich habe Deutsch, Französisch, Spanisch studiert – immer stärker geworden. Nach dem Studium ging ich nach New York, um Tänzer zu werden, da hat sich das Schreiben parallel mit dem Tanzen intensiviert.
Ich komme aus bescheidenen Verhältnissen. Niemand hat in meiner Familie je maturiert oder studiert, da gab es überhaupt kein Vorbild in diese Richtung. Ich denke, dass ich am Ende Schriftsteller geworden bin, weil ich mich nicht auf irgendetwas festlegen lassen wollte und konnte. Und weil das Schrei­ben mit ganz geringen Mitteln machbar ist. Man braucht nur ein Stück Papier und einen Stift.

Lyrik – was ist das? Was ist besonders daran? Was kann Lyrik, was Prosa nicht kann?

Lyrik ist ein einzigartiges Werkzeug, das sich der Mensch geschaffen hat, um auf geringstem Raum höchst ­komplexe Dinge zum Ausdruck zu bringen. Dabei wird vor allem mit dem Echoraum der Wörter anders umgegangen als in der Prosa. Diese kann auch viel stärker ausufern, über Hunderte, sogar Tausende Seiten. Bei Lyrik gibt es hingegen das Erfordernis, auch eine gewisse Kürze oder Dichte zu halten.
Jede:r Dichter:in hat eine andere Vorstellung, was Lyrik ist, was Dichtung ist. Aber es ist ein Raum, in dem sich Denk- und Darstellungsmöglichkeiten gestalten lassen, die sich sonst eben nicht realisieren lassen, nicht in einer verwalteten, von ökonomischen Zwängen strukturierten Welt. In dieser Kürze, in dieser Dichtheit, kann nur die Lyrik das zum Ausdruck bringen, was uns in dieser Welt umtreibt.

Lyrik hat an Bedeutung verloren. Welchen Stellenwert, welchen Raum hat Lyrik in der Gesellschaft heute?

Ich würde sagen: so gut wie keinen. Deswegen habe ich vor sieben Jahren die Poesiegalerie initiiert. Vorangegangen ist eine Art Bestandsaufnahme, was in den letzten zwanzig bis dreißig Jahren passiert ist. Ich spreche von dem Umbruch Ende der 1980er- bis in die 1990er-Jahre hinein. Früher war Lyrik normaler Teil der Literatur; im deutschen Sprachraum allerdings nie so zentral wie es zum Beispiel in Lateinamerika oder in Frankreich der Fall ist. Aber die neuesten Lyrikbände wurden in den Feuilletons besprochen und lagen in den Buchhandlungen auf. Dann sind ab Ende der 1980er langsam die Manager in die Verlagsbranche eingesickert. Nicht mehr der für seine Bücher und Autor:innen engagierte Verleger, sondern die von Kapitalinteressen geleiteten Investor:innen haben immer stärker die Verlage bestimmt und dadurch ist natürlich die Lyrik, die nie ein großer Geldbringer war, unter Druck gekommen. Die großen Verlage haben bis auf ganz wenige Autor:innen die Publikation von Lyrik eingestellt. Deshalb waren sie auch nicht mehr in den Buchhandlungen präsent. So haben die Buchhändler:innen Know-how verloren, und ebenso die Feuilletonredakteur:innen. Es war kein must mehr, sich in der Lyrik auszukennen. Auch an den Unis – was wurde dort nach Jandl oder Artmann noch an Lyrik analysiert? Nicht viel. Lyrik ist nahezu verschwunden aus der Lehre und Forschung, aus den Zeitungen, aus den Medien und aus den Buchhandlungen. Ähnliches passierte in den Schulen, wo in den letzten Jahrzehnten Literatur runtergeschraubt wurde. Das alles hat dazu geführt, dass sie kaum wahrgenommen wird. Aber es gibt nach wie vor Autor:innen, die Lyrik schreiben, und zwar auch gute und spannende Lyrik.

Was macht die Poesiegalerie?

Die Poesiegalerie versucht mit ihren Mitteln der oben beschriebenen Tendenz entgegenzuarbeiten, und zwar auf mehreren Ebenen. Einerseits publizieren wir auf der Homepage der Poesiegalerie fast täglich ein «Gedicht von heute». Wir besprechen fast alle Lyrikbände, die erscheinen. Und wir veranstalten einmal im Jahr das Poe­siegalerie-Festival. Wir haben den ­Fokus auf Lyrik aus Österreich, d. h. von Leuten, die in einem österreichischen Verlag publizieren oder hier in Österreich leben oder aus Österreich sind und in ­einem nicht-österreichischen Verlag veröffentlichen. Es sind drei Tage, heuer von 14. bis 16. November, mit insgesamt 60 Autor:innen und Künstler:innen, es gibt 45 Lesungen, eine große Diskussion über das experimentelle Schreiben heute und die transmediale Poesie­galerie, wo wir medienübergreifende Projekte zeigen. Wir haben heuer eine ­Kooperation mit dem Vienna Poetry Filmfestival, es gibt Performances. Und da die zeitgenössische Lyrik in den Buchhandlungen fast nicht mehr präsent ist, liegen bei der Poe­siegalerie die Bücher von 25 Verlagen auf, sodass man sie anschauen und auch kaufen kann.
Uns ist wichtig: Wir sind keine Schule. Wir sind keine Richtung, sondern wir versuchen die Lyrik in Österreich, mit einem gewissen Qualitätslevel natürlich, in ihrer ganzen Breite abzubilden.

Es wurden in den letzten Jahren auch kleine Lyrikverlage gegründet. In  einigen Medien wird Lyrik wieder mehr Platz eingeräumt, etwa sind Gedichte im Album in «Der Standard» abgedruckt.

Ja, im Standard, auch in der ­Presse, da ist Erwin Uhrmann zuständig, der hat im Spektrum immer eine ­Spalte mit Gedichten. Er ist auch der Herausgeber der Reihe Limbus Lyrik, das ist eine der erfolgreichsten und auch wichtigsten Lyrikreihen hierzulande. Semier Insayif bringt Gedichte in der Furche. Das gab es vorher alles nicht. Wir haben jetzt auch als Poesiegalerie im VORmagazin jeden Monat ein Gedicht. Da hat sich was getan. Es gibt ­einen leichten Trend, das sagen mir auch die Buchhändler:innen, dass es ein bisschen mehr Nachfrage nach Lyrik gibt. Man kann nicht von einem Hype sprechen, aber es besteht die Hoffnung, dass wieder mehr Interesse aufkommt.

Wie, wo wird Lyrik vermittelt? Gedichte kann man auch im Radio hören, es gibt Lesungen, Poetry Slams …

Die sozialen Medien, etwa BookTok auf TikTok, scheinen jetzt sehr wichtig geworden zu sein. Ich glaube, es ist dennoch wesentlich, Bücher zu kaufen und auf Lesungen zu gehen und die unterschiedlichen Arten zu hören, wie ­Leute lesen und ihre Texte zum Ausdruck bringen. Was allerdings fehlt, ist der Austausch, das Gespräch. Viele Menschen sagen: Moderne Lyrik versteh ich nicht, die ist komisch. Ich würde gern mit ­ihnen über dieses Nichtverstehen ins Gespräch kommen. Weil ich Lyrik auch als konzentrierte Kommunikationsform unglaublich wichtig finde. Wenn jemand ein zeitgenössisches Gedicht liest und es nicht versteht, setzt das Gedicht offenbar dem herkömmlichen Verstehen einen gewissen Widerstand entgegen. Man muss also eine gewisse Frustration aushalten und andere Formen des Zugangs entwickeln, um dann eine sehr differenzierte und subtile Form von Kommunikation genießen zu können. Und das müssen wir eigentlich auch in unserem Alltag, wo wir oft mit fremden Leuten konfrontiert sind, die wir eigenartig finden. Da gilt es, Frustrationstoleranz zu entwickeln und in ein Nachdenken zu kommen. Ein lyrischer Text lädt uns immer wieder ein, auch unsere eigenen Erwartungen zu hinterfragen. Und darüber können wir schon einmal einen Zugang bekommen. Das Besondere, wie es das Gedicht zum Ausdruck bringt, kann nie das Erwartete sein, es muss seine ­eigene Sprache finden.

Poesiegalerie 2024
14. bis 16. November
IG Architektur, Gumpendorferstraße 63B
www.poesiegalerie.at

 

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