Die «Hochbegabten» brauchen keine Angst vor der Langsamkeit haben
Die Forderung nach Abschaffung der Sonderschulen klingt wahrscheinlich für die Mehrheit unserer Leser_innen sehr plausibel. Die Sonderschulgegner_innen berufen sich auf die Notwendigkeit, die UN-Menschenrechtskonvention auch im Schulbereich umzusetzen. Robert Sommer überrascht mit einem anderen Imperativ: Macht aus allen Schulen Sonderschulen!Weil ein Sonderschulabschluss einen jungen Menschen ausreichend stigmatisiert, um seine Chancen zur Integration in den Arbeitsmarkt zu minimieren, scheint dieser Schultyp ein reaktionäres Überbleibsel aus einer Epoche der Disziplinierung und Menschenzüchtigung zu sein.
Diese aus humanistischer Perspektive vorgetragene Kritik stößt aber auf einige Realitäten, die die Beurteilung der Sonderschule komplizierter machen als zunächst vermutet. Erstens erleben viele Sonderpädagog_innen, dass sich die Kinder in den Sonderschulen durchaus wohl fühlen. Zweitens kommen von vielen Eltern immer wieder positive Rückmeldungen. Drittens werden Kinder, die ein anderes Verhalten haben als ein als durchschnittlich anerkanntes, immer wieder in die Sonderschule zurückgeschickt. Sie lassen sich gerne zurückschicken – damit sie endlich wieder angstlos anders sein können.
Jedes Kind ist einmalig
In gewissem Sinn sollten a l l e Schulen zu Sonderschulen werden. Das klingt für linke Ohren irritierend. «Jedes Kind ist aufgrund seiner Entwicklung, seines Milieus, seiner Sprache und Kultur einmalig. Deshalb braucht jedes Kind eine besondere Pädagogik, die ihm erlaubt, sich für die Welt zu interessieren – auch die Kinder, die wir behindert nennen», meint Georg Feuser, der an der Uni Bremen lehrende Behindertenpädagoge, bekannt für sein «Allgemeine Pädagogik» genanntes radikales Integrationskonzept.
In den Sonderschulen sind Individualisierung und Differenzierung ja bereits grundlegendes pädagogisches Element. Sonderschullehrer_innen besitzen Kompetenzen, auf die Einmaligkeit jedes Kindes einzugehen. Ein Weiterbestehen der Sonderschulen würde aber die notwenigen Veränderungen der Regelschulen erschweren bis verhindern, weil dann ja immer die Sonderschulen als Ausweg zur Verfügung stünden und eigene Anstrengungen nicht notwendig wären. Deshalb sollte man die Sonderschulen laut Ewald Feyerer vom Linzer «Institut inklusiver Pädagogik» sukzessive zusperren; aber nicht ersatzlos. Sie sollten in sonderpädagogische Kompetenzzentren für Menschen mit Sinnes- und Körperbeeinträchtigungen sowie mehrfach beeinträchtigte Kinder umgewandelt werden.
Der Begriff der Behinderung wäre freilich eine eigene Debatte wert. Georg Feuser: «Geistig Behinderte gibt es nicht. Natürlich gibt es Menschen, die nur schwer lernen können und die beeinträchtigt sind. Doch ‹geistige Behinderung› ist eine soziale Konstruktion, die mit dem einzelnen Menschen nichts zu tun hat. Dieser Begriff hat wissenschaftlich gesehen keine Existenzberechtigung.» Senkt die Integration der Schüler_innen, die wir Behinderte nennen, nicht das allgemeine Leistungsniveau? Das ist ein Mythos, meint der Bremer Bildungswissenschaftler. «Nicht einmal das Niveau der sogenannten Hochbegabten sinkt. Im Gegenteil: So lernen Kinder viel eher, wissenschaftlich zu arbeiten, also ein Problem zu identifizieren, was heute viele Studenten nicht mehr können.»
Im Tempo der Langsamsten
Der Kapitalismuskritikerin und Autorin Marianne Gronemeyer zufolge sollte die propagierte Selbstverpflichtung der mexikanischen Guerillabewegung der Zapatist_innen, «im Tempo des Langsamsten gehen», zum Leitsatz auch der europäischen Pädagogik werden. «Ich kann den empörten Aufschrei hören», nimmt Gronemeyer die Kritik vorweg. «Die Wirschaftsbosse, die großen Antreiber der Schulen und Hochschulen, die Effizienz fordern, will sagen, mehr unmittelbar verwertbares Resultat in kürzerer Zeit, würden in Weltuntergangsstimmung geraten. Aber wieso sollte es der Möglichkeit, sich zu bilden, abträglich sein, wenn die Lernenden sich von den Langsamsten die Gangart vorgeben ließen. Die Langsamen halten die Fragen offen, bewahren die Schnellen vor Trugschlüssen. Ich habe überhaupt keine Sorge, dass die Schnellen zu kurz kommen, wenn sie sich nach den Langsamen richten. Aber ich fürchte umgekehrt, dass die Langsamen auf er Strecke bleiben und abgehängt werden, wenn sich die Schnellen das Tempodiktat unter den Nagel reißen.»
Für jedes Kind Verantwortung zu übernehmen und kein Kind zurückzulassen – so müsste der Auftrag der Gesellschaft an die Lehrerinnen und Lehrer lauten. Anders gesagt: Macht aus allen Schulen langsame Schulen! Macht aus allen Schulen Sonderschulen!