Macondo liegt in SimmeringArtistin

Sudabeh Mortezai schreibt mit ihrem preisgekrönten Spielfilm Stadtgeschichte

Sudabeh Mortezai hat eine bewegte Filmgeschichte. Sie hat ein Kino geleitet, bei Festivals gearbeitet und Dokumentarfilme gedreht. Jetzt hat sie ihren ersten Spielfilm produziert und staubt damit Preise ab. «Macondo» ist die Geschichte eines Kindes, das sich mit der Erfahrung der Flucht, dem Tod des Vaters und dem Ankommen in einer mäßig freundlichen Stadt namens Wien herumschlagen muss. Im Gespräch hat Sudabeh Mortezai erzählt, wie sie Macondo kennenlernte, wie sich in einem Baggerpark das Glück manifestiert und warum man sie durchaus auf ihren migrantischen Hintergrund ansprechen darf.

Foto: Filmladen Filmverleih

1998 wurde das «Kardinal-König-Integrationshaus» vom Österreichischen Integrationsfonds errichtet und war elf Jahre lang Unterkunft für anerkannte Flüchtlinge. Seit 2010 wird es vom Innenministerium verwaltet, und seither ging es mit der Gründungsidee bergab. Unter dem freundlich-familiären Namen «Familienunterbringung Zinnergasse» werden dort Familien inhaftiert, die auf ihre Abschiebung zu warten haben.

Kardinal König, möchte man annehmen, rotiert im Grab. Sudabeh Mortezai nennt es «reinen Zynismus». Auf der einen Seite werden die untergebracht, denen der Schutz verwehrt wird. Auf der anderen Seite leben jene, die es gerade geschafft, die einen positiven Asylbescheid oder zumindest subsidiären Schutz – also einen temporär gesicherten Aufenthalt – haben; für die einen Hohn, für die anderen Drohung.

Die andere Seite, das ist Macondo. Das Gelände der ehemaligen Kaserne Kaiserebersdorf wurde 1956 für tausende Flüchtlinge aus Ungarn geöffnet. In den unrenovierten Kasernenräumen begann ihr Leben im Exil. Abgelöst wurden sie von Generationen weiterer Kriegs- und Krisenflüchtlinge. In den 1970er-Jahren kamen die Pinochet-Flüchtlinge aus Chile und mit ihnen der Name der Siedlung, eine Leihgabe aus dem Roman «Hundert Jahre Einsamkeit» des heuer verstorbenen Literaturnobelpreisträgers Gabriel García Márquez.

Die Wahl, ein Sprachrohr zu sein

Zuerst war da der Ort, dann kam der Film, sagt Sudabeh Mortezai. «Ich habe irgendwo eine kurze Notiz über das Macondo gelesen und mich gefragt, wieso kenn ich den Ort nicht? Ich wohne doch seit dreißig Jahren in Wien.» Damit ist Mortezai durchaus nicht alleine. Die Siedlung am Rand von Simmering ist wenigen Wiener_innen ein Begriff. Es gibt dort auch, ganz ehrlich, nichts zu tun, wenn man nicht gerade Verwandte oder Freund_innen zu besuchen hat. Von Infrastruktur kann keine Rede sein. Anziehungsort für Innenstädter_innen ist einzig der Baggerpark in unmittelbarer Nähe; aber dazu später.

Sudabeh Mortezai machte sich also auf, das Macondo kennenzulernen. «Es waren nicht nur die Geschichten der Leute, sondern auch der Ort, der mich fasziniert hat – es sah da einfach so filmisch aus. Da hab ich sofort gedacht, ich will hier irgendwas machen.» Aus dem «Irgendwas» wurde ein mehrfach preisgekrönter Spielfilm, der erste in der Laufbahn der Filmemacherin; er trägt den Namen der Siedlung: Macondo.

Vorher hatte Mortezai Dokumentarfilme gedreht. Mit «Children of the Prophet» (2006) und «Im Bazar der Geschlechter» (2010) produzierte sie Einblicke in iranische Lebenswelten, die sie selbst, in einer säkularen Familie in Wien und Teheran aufgewachsen, zwar auch von außen, aber doch von einem näheren Außen betrachten und dem Kinopublikum vermitteln konnte. Im Interview mit Jenny Legenstein im Augustin sagt sie 2010: «Wenn man mit einem migrantischen Hintergrund aufwächst, wird man zum Sprachrohr. Man kann seine private Biografie aus dem größeren politischen Gefüge überhaupt nicht herausnehmen, und deswegen wird alles auch ein Statement.» Ob es nicht auch nervt, ständig auf eine migrationshintergründige Position zurückgeworfen zu sein, frage ich sie vier Jahre und einen großen Erfolg später. «Mich nervt das ehrlich gesagt überhaupt nicht», entgegnet Mortezai, «ich finde es naheliegend. Es würde mich nerven, wenn man von mir nur noch das erwartet und ich über nichts anderes mehr reden darf. Aber ich habe mir das Thema bewusst ausgesucht. Man kann mich ruhig drauf ansprechen.»

Macondo, ein Grätzl am Rande der Stadt

Sudabeh Mortezai verbrachte zweieinhalb Jahre mit Besuchen und dem Aufbau von Beziehungen im Macondo – nicht strategisch, sondern weil es sich so ergab. Sie nützte eine Drehbuchförderung, um Filmworkshops mit Kindern in der Siedlung zu machen. «Und einige der Kids, die ich aus der Zeit kenne, sind jetzt auch im Film.»

Damals, als Mortezai ihre Zeit im Macondo verbrachte, waren da hauptsächlich tschetschenische Flüchtlinge. Heute sind es mehr Syrer_innen. Wer dort wohnt, «reflektiert ja auch so ein bisschen die Kriege, die geführt werden». Mortezai entschloss sich zu einer Macondo’schen Mikrogeschichte – der Geschichte von Ramasan.

Den echten Ramasan Minkailov und seine Filmfamilie hat sie bei Castings in der Wiener tschetschenischen Community gefunden. Seine Geschichte ist nicht eins zu eins die seiner Rolle. Seine Fluchterfahrung machte er in einem Alter, in dem er für konkrete Erinnerungen zu klein war. Wenn er bei Publikumsgesprächen gefragt wird, sagt er, zu 80 Prozent spiele er sich und zu 20 Prozent seine Rolle. «Aber was er als die 80 und 20 Prozent erachtet, weiß ich letztendlich auch nicht», sagt Mortezai.

Ramasan, der Echte, ist eine kleine Filmschönheit. Wieso das so sein muss, möchte ich wissen, wo doch die nicht so schönen Kinder auch ein Recht aufs (Film-)Glück hätten. Wohl wahr, meint Mortezai, aber da sei sie schlussendlich Strategin: Zwar habe Ramasan die Rolle bekommen, weil er überzeugend improvisieren konnte, aber dass er so ein hübsches Gesicht hat, sei ihr auch nicht entgangen. «Film ist ein visuelles Medium, und Empathie wird eben zuallererst, bevor sich die Figur noch entwickeln kann, über die Oberfläche hergestellt. Gerade wenn ich will, dass das Publikum eine andere Perspektive einnimmt, halte ich das für ein gutes Mittel. Das kann ich auch ganz offen zugeben.»

Im Film wird nicht strikt nach Drehbuch gearbeitet. Die Vorgabe pro Szene ist das Ziel, das erreicht werden soll. Mit welchen Worten das vonstattengeht, sei den Schauspieler_innen überlassen. «Ich wollte nichts auswendig lernen lassen, weil ich mir sicher war, dass es total künstlich wird, wenn die Leute erst viel zu lange über die Dialoge nachdenken und dann Worte in den Mund nehmen, die nicht ihre eigenen sind.» Bei manchen Figuren, die sich ein Stück weit selbst spielen, ist die Lebensrealität erschreckend nah. Da ist zum Beispiel eine Behördenfigur, die man im ersten Moment nicht so recht zuzuordnen weiß – Sozialarbeiter oder Polizist? Ah, Sozialarbeiter, muss man schluckend zur Kenntnis nehmen. Ob der echte Sozialarbeiter beim Ansehen auch mal Zweifel an seinem Beruf bekommen hat? Vielleicht, meint Mortezai, sei der Perspektivenwechsel, der Blick auf die Welt durch die Augen von Ramasan, tatsächlich auch für die «echten» Menschen, die Biographien hinter den Schauspieler_innen, ein Anstoß zur Reflexion.

Der Ramasan im Film ist ein elfjähriger Bub, der mit seiner Mutter und den kleinen Schwestern aus Tschetschenien flüchtet. Sein Vater ist ermordet worden; das ist zwar die Wahrheit, gilt aber ohne jeglichen Beleg vorm Asylgerichtshof nicht sehr viel, so viel macht die durchaus engagierte Flüchtlingsberaterin deutlich. Ramasan ist elf und damit «erwachsen». Er übersetzt die Traumata der Mutter in der Beratung auf Deutsch und die nicht immer ganz sensiblen Fragen der Beraterin auf Tschetschenisch – soweit er das für angemessen hält, zumindest. Er kümmert sich um die kleinen Schwestern, er kämpft um seine eigenen minimalen Freiheiten und ringt um das Erbe des Vaters – mit sich selbst und einer unvermutet auftretenden, potenziellen Vaterfigur, die ihn besser versteht, als ihm recht ist. Die ganz normale Geschichte eines Kindes, das nicht nur den Aufwand der Flucht, sondern auch den des Asylverfahrens ertragen muss; und gleichzeitig ein Puzzlestein auf der kinematographischen Wienkarte. Auch das ist die Stadt, und zwar zu einem gar nicht irrelevanten Anteil.

Das Glück für 59 Euro/Stunde

Diese Stadt, zu der die Macondo-Siedlung gehört, wird im Film nur blitzlichtartig eingeschoben. Zum Beispiel in Form des Baggerparks, diesem Working-Class-Paradies für wohlstandsverwahrloste, vor echten Abenteuern behütete Kinder. Es war nicht «die intellektuelle Entscheidung, Klasse zu thematisieren», sondern wieder mal die Wirklichkeit, von der Mortezai sich inspirieren ließ: «Der Baggerspielplatz ist nur ein paar hundert Meter vom Macondo entfernt. Als ich die ersten Filmworkshops gemacht habe, haben die Kinder alle davon geträumt, auch in diesen Baggerpark gehen zu können, aber dorthin kommen nur die reichen Kinder, die bürgerlichen, wohlbehüteten, die dann auch einmal schaufeln und wild sein dürfen. Das ist ja eigentlich pervers.» Für die Eltern der Macondo-Kinder ist der Eintritt zum Baggerpark schier unleistbar. «NEU!», liest man auf der Website. «Jetzt können auch Kinder 1 Stunde zum Pauschalpreis alle Bagger ausprobieren! 1 Stunde baggern und 1 Port. Spareribs mit Bratkartoffeln zum Selbergrillen am Grill. Für NUR € 59.-». Die Macondo-Kinder, meint Mortezai, hätten schon ihre Strategien, sich aus ihrer Umgebung einen Spielplatz zu machen. Sie spielen im Wald, mit Sperrmüllresten, «anarchisch», sagt die Regisseurin mit einem Anflug von Bewunderung. Aber dort, wo das Kapital ist, da spielen die anderen. Im Film sieht das so aus: Ramasan und seine Freunde hängen am Zaun und schauen sehnsüchtig auf die andere Seite. Ein viel zu großes Auto parkt neben ihnen am Schotterparkplatz, heraus kommt ein Vater mit seinen zwei Söhnen, die frischgeschnittenen Frisetten alleine geben Aufschluss auf die Klassenzugehörigkeit, von den Maßschuhen und der Outdoorkleidung fürs kommende Abenteuer ganz zu schweigen. Die einen dürfen rein, die anderen nicht. Die einen haben einen Vater, und der hat so ein Auto, die anderen nicht. Während die einen auf den Bagger klettern, zerkratzen die anderen den SUV. «Und das kann ich als Emotion auch total verstehen», kommentiert Mortezai, als wäre die Rache den Kinderköpfen und nicht ihrem Drehbuch entsprungen. «Durften sie das Auto wirklich zerkratzen?», will ich wissen. Ob das Budget dafür gereicht hat oder in die Filmtrickkiste gegriffen wurde, wird hier aber nicht verraten.

Was als Nächstes aus der Mortezai’schen Filmproduktion kommt, ist noch offen. Der internationale Erfolg von «Macondo» hat jedenfalls dazu geführt, dass die Filmemacherin den Freiraum sieht, «die Dinge so zu machen, wie ich sie machen will». Gute Aussichten.

«Macondo» läuft zur Zeit in verschiedenen Kinos in Österreich.

www.macondo-film.at