Justizgeschichte: Deutsche Comic-Zeichner_innen kooperieren
Über zwei historische Serienmordfälle und ihre Verfilzung mit Gesellschaft, Polizei und Justiz. Und über eines der spannendsten deutschsprachigen Comic-Projekte.
Als Rainer Werner Fassbinder sein Stück «Bremer Freiheit. Frau Geesche Gottfried. Ein bürgerliches Trauerspiel» (1971) schrieb, misstraute er der historischen Aktenlage zum Fall der Bremer Giftmörderin, «weil mir das zum Teil manipuliert erscheint». Er las sich sein eigenes Bild aus den Leerstellen und Subtexten des verfügbaren Materials und machte aus der Figur Gesche Gottfried eine Madame Bovary der Giftmischerei, die sich gleichermaßen aus der Enge gewaltsamer Eheverhältnisse zu befreien sucht wie sie für einen freien Willen und eine selbstbestimmte Sexualität der Frau kämpft («Ich will den Mann in meinem Bett, ich schlaf nicht mit dem Sakrament, ich schlaf mit Armen, Schultern, mit Beinen schlaf ich, mit …»).
Knappe zwei Jahrzehnte später (1987-88) gelangten die lange als verschollen geglaubten Prozessakten aus der DDR nach Bremen und in die Hände des Worpsweder Autors Peer Meter. Nach einer systematischen Auswertung der Prozessunterlagen und der lange Zeit unhinterfragten zeitgenössischen Darstellung des Falles Gesche Gottfried, die bemerkenswerter Weise von ihrem Verteidiger Friedrich Leopold Voget stammte, konnte Meter nicht nur eine Reihe offensichtlicher Widersprüche feststellen, sondern eine bewusst grob verfälschte Darstellung der Sachlage bei Voget. Fassbinders Misstrauen hat sich als berechtigt herausgestellt.
Dabei geht der Fall ordentlich unter die Haut: Gesche Gottfried vergiftete von 1813 bis 1827 fünfzehn Menschen, darunter ihre Eltern, Kinder, Ehemänner. Mindestens 19 weiteren Personen gab sie zwischen 1823 und 1828 Gift in nicht tödlicher Dosis. 1828 wurde sie verhaftet, 1831 in Bremen öffentlich hingerichtet.
Von der wissenschaftlichen Aufarbeitung des Falles abgesehen, hat sich der Autor Meter auch literarisch mit der Giftmörderin auseinandergesetzt. Nach dem Theaterstück «Die Verhöre der Gesche Gottfried» (1989), uraufgeführt Mitte der 1990er Jahre, ist zuletzt der Comic «Gift» (2009) erschienen. Die Graphic Novel ist der erste Teil einer Serienmörder_innen-Trilogie, bei der Meter als Texter und Szenarist mit unterschiedlichen Comiczeichner_innen zusammenarbeitet und die gegenwärtig eines der spannendsten deutschsprachigen Comicprojekte darstellt. Nach «Gift», gezeichnet von der in Berlin lebenden Comickünstlerin Barbara Yelin, ist soeben auch «Haarmann» herausgekommen. Die Zeichnungen hat diesmal die bereits mehrfach ausgezeichnete Hamburgerin Isabel Kreitz angefertigt, während «Vasmers Bruder», die dritte Graphic Novel der Trilogie, aus der Hand des Künstlers David von Bassewitz stammt. Das Buch erscheint 2013, eine Vorveröffentlichung wird seit Juni 2010 in Folgen von der Zeitschrift Comix besorgt.
Dass es bei den drei künstlerischen Verarbeitungen der bekannten Fälle Gesche Gottfried, Fritz Haarmann und Karl Denke nicht allein um die Mörder_innen-Figuren geht, lässt sich vermuten. Dem vereinfachten Bild isoliert agierender und allein verantwortlicher Täter_innen-Figuren werden hier historische Beispiele gegenübergestellt, die sich durch ihre Verknäuelungen mit der sie umgebenden Gesellschaft auszeichnen sowie durch Irrtümer und offensichtliche Vertuschungen von seiten der Polizei, Gerichtsmedizin und Justiz.
Geschickt verpackt der Szenarist Meter die Geschichte Gesche Gottfrieds in eine Rahmenerzählung, deren Erzählerin und Zuhörerin beide auf fortschrittliche Frauengestalten am Ende des 19. Jahrhunderts hindeuten. Auf einer Reise nach Hamburg erfahren sie plötzlich, dass der Zug über Bremen umgeleitet würde, wobei es zu einem längeren Aufenthalt in Bremen käme. Das Stichwort Bremen löst bei der Erzählerin schlagartig einen Anfall an Übelkeit aus. Das lässt an die von Mäusebutter verursachte Übelkeit denken, jenes von Gottfried verwendeten Mäuse- und Rattengift, das sie ihren Opfern verabreichte. Doch wieder zu sich gekommen, lassen Meter und Yelin die Erzählerin auf atemberaubende Weise deren Erlebnisse eines Bremenaufenthalts schildern.
Hinter den Fassaden bürgerlicher Anständigkeit
Als junge Schriftstellerin kam sie 1831 in die Hansestadt, um für ihren Verlag eine Reisebeschreibung des als liberal geltenden Bremen zu verfassen. Schockiert von der bevorstehenden öffentlichen Hinrichtung der Giftmörderin Gottfried lässt sich die junge Reisende auf Gespräche mit Bürgern der Stadt, dem Gefängnispastor, schließlich dem Verteidiger Voget ein. Plötzlich erkennt sie, wie sich ihr Schicksal als junge schreibende Frau in der Figur der geächteten Giftmörderin spiegelt. In eindrucksvollen Bildern fängt Yelin die düstere Stimmung einer bedrohlich frauenfeindlichen Gesellschaft «hinter den Fassaden bürgerlicher Anständigkeit» ein, deren Härte umso deutlicher in der weichen Bleistiftstärke tiefschwarzer Zeichnungen zum Ausdruck gelangt. Darunter finden sich auch bemerkenswerte allegorische Sequenzen, wie jene, in der die Erzählerin einen Kutscher beobachtet, der wie wild auf sein Pferd einschlägt bis dieses sich tatsächlich aufbäumt und ihm die Zügel entreißt.
In Form einer Hinrichtung der als unzurechnungsfähig einzustufenden Giftmörderin schließlich scheint die Männergesellschaft in einem Schaulustspiel mit ausverkauften Fensterplätzen sich selbst zu feiern. Als Gottfried vor ihrer Hinrichtung den Richtern die Hand reichte, muss dies Verwunderung ausgelöst haben. Die Bedeutung dieser erschütterlichen Geste, die wie ein Großteil der Zitate historisch belegt ist, erkannte der Untersuchungsrichter Droste, eine Ausnahmeerscheinung in dem ganzen Prozess. Er hatte im Lauf der Verhöre seine Meinung von der Angeklagten verändert und kam schließlich zu dem Schluss, dass wohl kaum jemand wagen könnte, ein Urteil über diese Frau zu fällen. In vollem Bewusstsein seiner Angreifbarkeit reichte er ihr vor den Augen einer zwielichtigen Öffentlichkeit die Hand.
Was spricht dafür, dass sich ein Jahrhundert später eine Gesellschaft und deren Vertreter den Ursachen und Zusammenhängen eines Mordfalls, wie grauenerregend auch immer, offener zu stellen wagt?
Schauplatz Hannover, 1924, der Fluss Leine wird trockengelegt, nachdem dort wochenlang täglich Menschenknochen gefunden wurden. Menschenmassen verfolgen von der Brücke und ihren Fenstern über dem Flussufer aus die Arbeiten der Behörden, bis sie, mit falschen Informationen beruhigt, von diesen weggeschickt werden.
In «Haarmann» stellen Meter und Kreitz die letzten Wochen bis zur Festnahme des bekannten Serienmörders in beklemmenden Szenen und Bildern dar. Zwischen 1923 und Mitte 1924 ermordet der Menschenschlächter 23 junge Männer, zerstückelt ihre Leichen, schält das Fleisch von den Knochen und entsorgt diese teils in der Leine. Zu dem Grauen, das jegliche Vorstellungskraft übersteigt und das vordergründig doch als banale Brutalität beschreibbar scheint, kommen weitere entsetzliche Umstände hinzu: Um Haarmann floriert ein makaberes Gewerbe von Fleisch- und Kleiderhandel, ein Netz von Kinderjackenabnehmer_innen und «Fleisch-Freundschaften» (Th. Lessing), das von der Nachbarschaft bis zu Reihen der Beamtenschaft reicht. Der Kulturkritiker Theodor Lessing, der als Zeitgenosse den Haarmann-Prozess beobachtete und bis ins Detail kannte wie kaum ein anderer, fragte sich in seinem Buch zum Fall, wie sehr «der ganze Menschenknäuel um Haarmann» als Mitwisser fungierte, und zeigte auf, wie durch ihr Nicht-allzu-genau-Hinsehen «die ganze Umgebung […] an den Mordtaten mit(half)».
Doch damit nicht genug: Der erste Mord Haarmanns erfolgte 1918 und wurde durch reine Fahrlässigkeit der Polizei nicht aufgedeckt. Vielmehr wurde Haarmann, über den es mehrfach Gutachten über seine psychische Un-/Zurechnungsfähigkeit gab und der wegen Verführung eines Minderjährigen im Gefängnis war, als Polizeispitzel eingesetzt und inoffiziell mit einem Polizeiausweis ausgestattet. Wiederholte Warnungen wurden von der Polizei abgetan, achtlose Gutachten und Fleischproben (Menschenfleisch oder Pferdefleisch?) waren dafür verantwortlich, dass das fürchterliche Morden eines zwanghaften Triebtäters unbehelligt weiterging.
Während der Comic mit Haarmanns Gefangennahme endet und zugleich dort, wo der Mythos weitergeht, «… warte, warte nur ein Weilchen …», fand die fatale Geschichte im Prozess ihre unwürdige Fortsetzung. Dem Versagen der Polizei gesellte sich ein erschütterndes Bild der Justiz hinzu, das sich die geflissentliche Vertuschung sämtlicher polizeilicher Unterlassungen vornahm. Dessen Aufdeckung ist zu einem großen Teil jenem Lessing zu verdanken, der dafür mit einer schmählichen Verweisung aus dem Gerichtssaal zahlte.
Meter und Kreitz haben diese komplexe Geschichte aus der ersten Hälfte der Weimarer Republik in ihrer ganzen Unfassbarkeit und Vielschichtigkeit in einem fesselnden Comic dargestellt. Kreitz realistisch-naturalistische Zeichnungen mit ihren markanten Gestalten evozieren eine sachliche Atmosphäre der 1920er Jahre. Die detaillierten Hintergründe enge Gassen entlang mit ihren aufsteigenden Fachwerkfassaden, deren Holzverstrebungen, Erkern, Veranden, Kreuzfenstern und Läden vermitteln einen Eindruck, dass alles mit allem verbunden sei. Verstärkt durch die Bleistiftzeichnung greifen Holzgeflecht und Ziegelgemäuer noch dichter ineinander über. Freilich, hinter den Fenstern könnten Abgründe sich öffnen …