Maly Trostinec – TestimoniumDichter Innenteil

Die unermüdliche Suche der Waltraud Barton [Foto: Jella Jost]

Hitzewellen. Nichts Neues mehr. Der Verstand gewöhnt sich an vieles, ist in der Lage zu verdrängen. Das ist in Notzeiten eine überlebenswichtige Funktion. Nicht aber der Körper. Der vergisst nicht. Ich fahre also Richtung Südtirol ins Val Venosta, um Luft zu kriegen. Die Berge versprechen Erleichterung in der Hitze der immer näher rückenden klimatischen und humanitären Katastrophen.
Vor meiner Flucht aus Wien, respektive Reise, traf ich noch Waltraud Barton, mehrfach ausgezeichnete Initiatorin der Initiative IM-MER Maly Trostinec, und erst im Nachhinein, als ich die Aufnahmen mit Waltraud wieder und wieder hörte, wurde ich von diesem schweren Kapitel der Geschichte, das sie aufgeschlagen hat, zutiefst berührt. Waltrauds Schürfen, Suchen und auch Fordern kam zu einem erstaunlichen Ergebnis: den Steinen der Erinnerung. Und noch viel mehr. Es erinnert mich an Berni Glasmann, einem Ex-Zenmönch, der in Auschwitz Bearing Witness Retreats abhielt, was so viel bedeutet wie Zeugnis ablegen, ein Testimonium. Im Fall Maly Trostinec hatte Österreich kein Zeugnis abgelegt. Maly Trostinec als Ort des Verbrechens in der Nähe von Minsk kannte bis dahin so gut wie niemand, obwohl doch mehr als zehntausend österreichische Juden und Jüdinnen dort ermordet worden sind. Siebzehn überlebten. Durch eine persönliche Spurensuche in ihrer Familie stieß Waltraud Barton auf die erste Frau, jüdischer Herkunft, ihres Großvaters namens Malvine Barton. Der Großvater ließ sich in der Zeit des Nationalsozialismus scheiden. Ich frage nach, ob er sich dessen bewusst war, dass dies Malvines Tod bedeutet hat? Ambiguität gab es in vielen Familien. Malvines Leben endete in Maly Trostinec. Ein vergessenes Dorf in Weißrussland. Man wurde dort auf der Stelle zu den ausgehobenen Gruben geführt und erschossen. Manche hatten sich selbst reingestürzt.

 

Nichts. Kein Stein. Kein Mahnmal. Kein Hinweisschild. Nichts

 

Waltraud, die älteste Tochter eines evangelischen Theologieprofessors in Wien, kenne ich seit meinem 20. Lebensjahr, als wir beim selben Schauspiellehrer, der zufällig mein Vater war, Schauspiel studierten. Damals war der Holocaust für uns beide wohl noch kein derart präsentes Thema wie heute im Ältersein und im scharfen Blick auf Vergangenes und Zukünftiges. Ich vermute, es brodelte eher im Unbewussten, wir steckten beide in familiären Verstrickungen fest, ich mit meinem Vater als ehemaligem deutschen Nazi, der seinen und den allgemeinen Wahnsinn nie verkraftete, mit meiner Mutter, die ihre sorbischen, wendischen Wurzeln missachtete, Waltrauds Eltern ausschließlich ihre Zugehörigkeit zur evangelischen Kirche thematisierend. Anlässlich der aktuellen Wander-Ausstellung im Haus der Geschichte, die nach Waltrauds Meinung gar nicht gelungen ist, erzählt mir Waltraud nonstop zwei Stunden unter anderem, wie sich der Mechanismus des Verdrängens oder der Unwillen, essenzielle Details in die (österreichische) Geschichtserzählung miteinzubeziehen, speziell in Österreich gezeigt hat. Seit 2015 wanderte die Ausstellung Vernichtungslager Malyj Trostenez durch unterschiedliche deutsche Städte, um Geld zu sammeln. Die Schau befasst sich mit der deutschen Besatzungspolitik in Weißrussland, mit Zwangsarbeitslagern, mit Partisanenkämpfer_innen, Täter_innen und mit europäischen und weißrussischen Opfern. Dazu kommt im Haus der Geschichte Österreich ein eigener Teil über die aus Wien deportierten Jüdinnen und Juden. Unter den aus dem Deutschen Reich deportierten und in Maly Trostinec ermordeten Menschen sind nach aktuellem Forschungsstand die österreichischen Opfer die größte Gruppe. Noch bevor Waltraud Barton das erste Mal Richtung Minsk aufbrach, um den Weg ihrer Verwandten nachzuzeichnen, war sie ergriffen und schockiert, dass nichts an das Verbrechen erinnerte. Nichts. Kein Stein. Kein Mahnmal. Kein Hinweisschild. Nichts. Das war der Grundstein für Waltrauds Aufarbeitungsprozess und Initiative, die weiter wuchs und groß wurde. Inzwischen organisiert Waltraud Reisen mit den Hinterbliebenen der Opfer und Täter. Es sind wichtige verbindende Momente, wenn ermordete Juden und Jüdinnen in einer interkonfessionellen Trauerfeier nach so viel Zeit symbolisch beerdigt und gewürdigt werden. Es ist ein Versöhnungsprozess.

Oskar Deutsch, Präsident der Israelitischen Kultusgemeinde, betonte in seiner Rede: Die Vernichtungsstätte Maly Trostinec ist nicht nur ein Synonym für Massenmord, sondern auch für jahrzehntelanges Schweigen, für Verdrängung und Passivität. In Österreich ist es schließlich einer Privatinitiative gelungen, das Schweigen zu durchbrechen und einen Prozess der Auseinandersetzung mit den Geschehnissen in Gang zu setzen. Waltraud Barton: danke! Sie haben sich der schweren Aufgabe angenommen, den Opfern von Maly Trostinec würdevoll zu gedenken. Frau Barton, Sie haben bewiesen, was Engagement bewirken kann. Bis vor wenigen Jahren gab es weder Namensschilder noch Grabsteine oder sonst eine Erinnerung an die ermordeten Menschen. […]

Jetzt wird ihrer würdevoll gedacht.

 

Der Weg von Wien direkt nach Maly Trostinec war der Weg der direkten Vernichtung

 

Waltraud Barton schildert mir Details. Im November 1941 gab es 7 und 1942 16 Deportationszüge aus dem Großdeutschen Reich nach Weißrussland. Insgesamt also 23. Die 7 Transporte im Jahr 1941 hatten ohne Ausnahme das Ghetto Minsk zum Ziel. Von Mai bis Oktober 1942 gab es sechzehn Transporte nach Maly Trostinec, 5 aus Theresienstadt, 1 aus aus Königsberg, 1 aus Köln, aber 9 aus Wien. Das Ziel «Maly Trostinec» bedeutete «bei Ankunft Ermordung». Das macht die Ausstellung nicht deutlich, wie viele tausende aus Wien abtransportiert wurden, direkt zum Vernichtet-Werden in Maly Trostinec. Sie wurden bei Ankunft sofort ermordet. Wenn man durch die Ausstellung geht, erkennt man diese einzigartig monströse Spitzenposition von Wien unter den Deportationsorten nicht. Wenn Juden und Jüdinnen in in Ghettos gebracht und dort zu Zwangsarbeit verdammt worden sind, in Theresienstadt zum Beispiel, konnte man zwar sterben, aber mit der Deportation in ein Ghetto war eben nicht die sofortige Ermordung geplant, erzählt mir Waltraud. Der Weg von Wien jedoch direkt nach Maly Trostinec war der unmittelbare Weg in die Vernichtung. Tatsächlich war Theresienstadt für die meisten Juden und Jüdinnen ein Übergangslager. Doch die neun Transporte nach Maly Trostinec direkt in den Tod von Wien aus, das gab es bis dahin in keiner anderen Metropole. Juden und Jüdinnen aus den Bundesländern hatte man bereits zwangsweise durch Kündigungen nach Wien übersiedelt, um sie später von dort weiterzutransportieren. Eine bestens geplante akribische Grausamkeit.

In der erste Phase der Judenverfolgung ab 1938 operierten die Nazis mit Quälereien, man wollte es den Juden und Jüdinnen unmöglich machen, in ihrer Heimat zu bleiben, und zwang sie so zur Ausreise, oft samt Hinterlassung ihres Vermögens. Leider flohen viele in die falsche Richtung, in Länder, die später von den Nationalsozialisten erobert wurden. Die zweite Phase bis Winter 1942 war von zwangsweiser Aussiedelung geprägt. Die Deportationen begannen. Der Ausnahme-Winter 1941/42 machte es in Weißrussland auch unmöglich, Leichen zu verscharren. Mit der Wannseekonferenz im Jänner 1942 änderten sich die Strategien der Nazis. Die germanische Rasse wollte sich durch Morden durchsetzen und verbreiten. Das war Teil der Ideologie und des Wahnsinns. Waltraud antwortet mir, als ich nachfrage, ob der Vernichtungsgedanke von Anfang an präsent war, sie könne dies nicht sagen. In jedem Fall aber – und das war mir bis dato unbekannt – war der Antisemitismus dort am größten, wo die Gegenreformation am stärksten gewesen war. Wo Protestanten durch Katholiken vertrieben worden waren. In ihren Vorträgen und Arbeiten mit Schulen demonstriert Waltraud anschaulich und für die Kids spürbar, wie es ist, wenn jede und jeder Zehnte von den Nürnberger Rassegesetze betroffen ist: Ich zähle die Kinder ab von eins bis zehn und dann rufe ich: So du gehst raus! Die Kinder fragen dann: wieso?! Und ich antworte, ja, so war das. Für viele Menschen war ihr Jüdisch-Sein kein Thema, bis die Rassegesetze aufkamen. Es hatte nichts mit Religion zu tun.

 

Verfolgung als Tradition

 

Waltraud Bartons historisch interessante Theorie ist, dass die Habsburger mit der Gegenreformation offenbar einen Art Tradition begründeten, Teile der Gesellschaft, die einem nicht mehr passen, einfach aus dem Weg zu räumen. Das würde ich als hegemoniales Tradieren bezeichnen, das Fortsetzen von instrumentalisiertem Glauben, Gewalt und Machtanspruch über Generationen hinweg. Waltraud Barton will mit dem Verein IM-MER an Bürger_innen erinnern, die «sang- und klanglos» in übergroßer Zahl zwischen 1941 und 1942 aus dieser Stadt entfernt worden sind. Dabei konnte jeder die offenen Transporte in den Lastwägen sehen, die zum Aspangbahnhof fuhren. Besonders aber jene Gedanken, die sie in diesem Zusammenhang weiter unten formuliert, machen mir Sorge. Wenn jüdisches Frau-Sein und weibliches Alt-Sein in ein nationalsozialistisches Bild der Wertlosigkeit, Nutzlosigkeit mittels antisemitischer Ideologie gepresst werden, um diesen Menschen das Leben abzusprechen, dann müssen wir aufmerksam werden, wenn Menschen nur existenzberechtigt scheinen, wenn sie einen Zweck erfüllen, wenn Produktion, Leistung und Kapital an erster Stelle stehen, erkennen wir möglicherweise, wo uns das global – nicht nur klimatisch – hinführen wird. Sich derer zu entledigen die ungewollt und womöglich andere Ansichten vertreten, vor allem in Glaubensfragen, hat bei uns lange Tradition. Camoufliert wird mit moderner Diktion und einflussreicher medialer Bilderflut, die propagandistisch Katastrophen suggerieren. Daher war Waltraud Bartons Entscheidung treffend und traurig zugleich: Ich gründete diesen Verein bewusst am 8. März, dem internationalen Frauentag, denn die Ermordeten waren zum größten Teil Frauen gewesen, alleinstehende, ältere, ja alte Frauen. Vielleicht wurde ihr Verschwinden auch deshalb in den letzten Jahrzehnten so wenig thematisiert, weil sie – wie auch alte Frauen heute – schon vorher in der Öffentlichkeit unsichtbar gewesen sind.

 

 

INFO:

Ausstellung im Haus der Geschichte

bis 27. 10. 2019
www.hdgoe.at

Waltraud Barton siehe www.IM-MER.at