«Man muss auch in der Bildung ansetzen»tun & lassen

Zwei Tage lang stand Wien im Zeichen von Black-Lives-Matter-Demonstrationen. 50.000 Menschen kamen zur ersten am 5. Juni – einer der größten Demos in der Geschichte der Zweiten Republik. Im Interview spricht Organisatorin Mireille Ngosso übers Aufwachsen in Wien, Polizeigewalt, Geschichtsbewusstsein und die zukunftsträchtige Jugend.

Interview: Ruth Weismann, Foto: Jana Madzigon

Sie haben die Black-Lives-Matter-Demo am 5. Juni organisiert. Was waren Ihre ersten Gedanken angesichts der Menschenmenge?
Wir haben mit 3000 Personen gerechnet. Um 17.30 schaue ich über den Platz der Menschenrechte und habe mein Leben nicht gepackt. Es war alles voll. Als ich die Massen gesehen habe, so divers – jung, alt, vor allem sehr viele junge Menschen, People of Color, Black People of Color, die alle «Black Lives Matter» schreien, weiße Personen – das war so schön, mir sind die Tränen in die Augen geschossen.

Warum, glauben Sie, waren es so viele?
Dadurch, dass so viel Jugend da war, glaube ich, dass diese eine Veränderung möchte. Ich glaube auch, dass wir viele Menschen sensibilisiert haben und gerade die Jugend sich gedacht hat: Das ist alles extrem unfair, das will ich nicht.

Ausgangspunkt war ja Solidarität mit den US-Protesten wegen der Ermordung des ­Afroamerikaners George Floyd durch einen Polizisten.
Ja auch, aber wichtiger ist: Wir wollten auf den strukturellen Rassismus aufmerksam machen, der bei uns herrscht, und darauf, dass wir auch hier Ungerechtigkeiten haben, die bis zu brutaler Gewalt gehen. Meine Brüder wurden oft von der Polizei aufgehalten, Racial Profiling ist so oft passiert. Und es wurden auch hier mehrere Schwarze Männer von der Polizei getötet.
Etwa Marcus Omofuma, der 1999 bei seiner Abschiebung von Polizisten getötet wurde. Als Mike Brennan, ein afroamerikanischer Lehrer der Vienna ­International School, 2009 von Polizisten in einer U-Bahn-Station verprügelt wurde, gab es etwas mehr Auf­schrei.

Sehen sie auch Klassismus gemeinsam mit Rassismus am Werk?
Ja sicher. Das sieht man auch daran, was Leute unter Artikeln kommentieren oder mir ins Gesicht sagen: «Aber das war ein Krimineller.» Aber ganz egal, ob jemand kriminell war oder nicht: Er ist immer noch ein Mensch. Wir haben ein Rechtssystem, das sieht nicht vor, dass die Polizei Selbstjustiz übt.

Was müsste bei der Polizei bzw. im Innenministerium passieren, damit so etwas nicht mehr geschieht?
Ich weiß von der Wiener Polizei, dass sie vor rund zehn Jahren damit begonnen hat, vermehrt Anti-Rassismus-Workshops zu machen, mit den Communitys zusammenzuarbeiten und versucht hat, Menschen mit Migrationshintergrund für die Polizei zu rekrutieren. Aber das reicht noch nicht. Ich habe mich letztens mit jemandem aus dem Innenministerium unterhalten, der mir gesagt hat, dass sie vierteljährliche Treffen mit den Communitys und NGOs haben, aber da ist keine Schwarze Person von Seiten des BMI dabei. So kann man das Problem nicht abbauen. Und es geht ja nicht nur um die Polizei, es zieht sich durch alle Institutionen. Ich habe oft das Gefühl, dass People of Color und Black People of Color nicht die gleichen Chancen haben, etwa am Bildungsweg oder Arbeitsmarkt.

Haben Sie das selbst auch erlebt?
Immer wieder. Ich habe mit 16 die Schule abgebrochen, weil meine Lehrerin gesagt hat, aus mir wird eh nichts. Das habe ich nicht mehr ausgehalten. Dann habe ich per zweitem Bildungsweg die Matura nachgemacht. Immer wieder stoße ich irgendwo an, wo ich sehe, dass ich aufgrund meiner Hautfarbe nicht weiterkomme. Und das ist Fakt, das ist nichts Eingebildetes.
Einerseits gibt es den Alltagsrassismus, der etwa in komischen Kommentaren mitschwingt. Und dann den strukturellen Rassismus. Ich verstehe, woher das kommt, wenn man sich das geschichtlich anschaut. Österreich hatte zwar keine Kolonien, aber hat auch Sklaven gekauft. Es wird überhaupt nicht thematisiert, dass Schwarze Menschen schon lange in Österreich präsent sind, in den Weltkriegen mitgekämpft haben und eigentlich die erste Generation der Schwarzen Kinder jene nach dem Zweiten Weltkrieg war: die Kinder von US-Soldaten. Dass Schwarze Menschen in Mauthausen umgekommen sind, dass Schwarze Menschen im Prater im Zoo ausgestellt wurden – das sind alles Dinge, die nicht erzählt werden. Mann muss auch in der Bildung ansetzen und diese geschichtlichen Tatsachen den Kindern erzählen.

Wie gehen Sie in Bezug auf ihren Sohn mit Rassismus in Bildungseinrichtungen um?
Als er in den Kindergarten gekommen ist, habe ich gleich gesagt: «Ich hoffe, ihr habt keine Bücher mehr, wo das N-Wort drin ist, und ich hoffe, es gibt hier keinen Rassismus.» Ich habe alles angesprochen, weil ich natürlich weiß, wie das ist. Man überlegt sich als Black People of Color gut: Wohin schicke ich meine Kinder?
Für mich ist jetzt wichtig: Es geht bei der Black-Lives-Matter-Bewegung nicht darum, die Gesellschaft auseinanderzudividieren, es geht darum, miteinander zu wachsen. Es geht darum, Bewusstsein zu schaffen, dass man zuhört, sich solidarisiert und mithilft, zu verändern. 

Mireille Ngosso ist Ärztin und stellvertretende Bezirksvorsteherin im 1. Bezirk (SPÖ).