Medikamente in ukrainische Spitäler schicken, Übersetzung beim Zugticket-Kauf: In Wien lebende Ukrainer_innen organisieren sich, um vor dem Krieg in der Ukraine Geflüchteten zu helfen. Ein Lokalaugenschein.
Text: Kerstin Kellermann
Foto: Jana Madzigon
Freundlich empfängt der junge Mann alle Menschen, die in der Landstraßer Hauptstraße vorbeischauen. Volodymyr (alle Nachnamen der Redaktion bekannt) steht im zugigen Durchgang zu einem Hof, in dem gerade ein Transporter beladen wird: «Ich fühle die Verantwortung, dass die ukrainische Diaspora an unsere Menschen denken soll. Wenn jemand an unsere Leute denken soll, dann wir», sagt er. Seine Eltern sind nach wie vor in Lwiw/Lemberg, seine Schwester fuhr sogar zurück, um sich um die Tiere im Krieg zu kümmern. «An die Tiere denkt doch keiner», sagt er. Seine Tante in Kiew habe sich mit ihrem 19-jährigen Sohn der zivilen Landesverteidigung angeschlossen. Volodymyr steht in Kontakt mit seinem Cousin. «Sie sind noch am Leben», sagt er.
«Nun geht es mir schon besser, weil alles organisiert abläuft», sagt die junge Ärztin Ivanna. «In der ersten Woche kriegte ich im Schockzustand nur zwei Stunden Schlaf pro Nacht, ich war mit meiner mentalen Gesundheit am Ende. Hier gibt es Ablenkung und keine Zeit, um ins Handy zu schauen.» In dem historischen Gebäude der Ärztekammer stapeln sich die beschrifteten Schachteln. «Austria for Ukraine» steht auf den Schachteln. Gebraucht werden Medikamente, Schlafsäcke, Babynahrung – keine Kleidung mehr. «Wir versuchen gezielt zu bringen, was Spitäler brauchen», sagt sie. «Wir geben unsere Sachen in die Hände von Ärzten, die uns Fotos als offizielle Bestätigung schicken.»
Privatautos fahren an die Grenze und manchmal sogar ins Land. Zumeist fahren Frauen alleine los, denn bei Männern besteht die Gefahr, dass sie die Ukraine nicht mehr verlassen dürfen. Schon am früheren Standort in der Postgasse am Schwedenplatz waren ältere Damen zu sehen, die verwegen und flott ihr vollgeladenes Auto Richtung Grenze starteten. Auf die Frage, warum Ukrainer_innen hier so wenig reden, antwortet Volodymyr: «Wenn man redet, beginnt man zu weinen.»
Krank im Herzen.
Ein kleines Mädchen, das sich die Ohren zuhält, und ständig hin- und herwandert. Ein Junge, der sich immer wieder mit der Mütze ins Gesicht schlägt in immer gleicher Bewegung, während er seiner Familie hinterhertrottet. Den Kindern, die am Wiener Hauptbahnhof ankommen, scheint man die Folgen der tagelangen gefährlichen Flucht deutlich anzusehen. Die Eltern sind selber am Ende ihrer Kräfte, manche telefonieren nonstop. Eine italienische Frau hält mitten im Trubel und Gewimmel ein Schild, «Help» steht darauf. Sie übersetzt, da manche zu Verwandten nach Italien weiterwollen. «Vorhin half ich einer Familie», erzählt sie. «Wir waren alle den Tränen nahe.»
Ein Ukrainer aus der Nähe von Lwiw, der die ukrainische Fahne wie einen Fußballschal um den Hals trägt, hilft beim Ticketkauf. Der IT-Techniker geht jeden Tag zum Bahnhof, er hat sich Urlaub genommen. «Ich bin krank im Herzen geworden», sagt er. Jemand schenkt dem Kleinen, der auf dem Fußboden in der Warteschlange den Hund sekkiert, eine hölzerne Ziehkuh. Eigentlich ist er schon viel zu groß für dieses Spielzeug. «Seit Tagen lebt mein Sohn von Schokolade», sagt eine junge Frau aus Kiew. «Wir wollten sein Leben retten, deswegen sind wir weg.» Jemand hat dem kleinen Jungen einen Giraffen-Rucksack geschenkt, den er befüllt und mit dem er herumtanzt. Die Österreichischen Bundesbahnen überlegen gerade, einen Kinderbereich einzuführen.
«Man muss einfach nur helfen, und das war es», sagt ein Ukrainer, der schon 17 Jahre in Wien lebt. «Viele sitzen ohne Strom bei minus 18 Grad im Keller. Man will die Leute abholen, aber die russischen Soldaten lassen sie nicht heraus.» Sein Opa will nicht nach Österreich kommen, sein 24-jähriger Cousin stieg in den Autobus, um kämpfen zu fahren. «Noch lebt er», sagt der junge Mann lakonisch. «Ich habe noch zwanzig Tage Urlaub, aber der Krieg ist ja noch nicht vorbei. Ich hoffe, dass das zu viel Urlaub ist und der Krieg früher endet», lächelt eine junge Frau. Hinter ihr steht in dem historischen Gebäude, das die Ärztekammer zur Verfügung stellt, die Statue «Der Frühling» in der Einfahrt.