Marseille schreibt eine andere Welt herbeivorstadt

Themenhefte, künstlerisch gestaltet: von Sensiblem und vom Übersetzen (Foto: © Un autre Monde)

In Frankreich nicht gang und gäbe: Straßenmagazine. Marseille hat seit drei Jahren eines, das vor allem an der Einbindung der Stadtbewohner:innen arbeitet.

Das Ende eines Sommertages 2023 in Marseille: In großer Zahl haben sich beim Kulturzentrum Friche la Belle de Mai Menschen versammelt, die den lauen Abend mit nordafrikanischem Essen, Livemusik und Gesprächen ausklingen lassen. Das Kouss-Kouss Festival steht am Programm des interdisziplinären Ortes für kreatives und soziales Zusammenkommen. Neben großen Töpfen, aus denen rege Couscousgerichte geschöpft werden, stehen in der Veranstaltungshalle auch Tische, auf denen sich Hefte stapeln. Deren schöne Titelseiten, die auch als Poster wie Kunstdrucke präsentiert werden, sowie siebbedruckte Taschen ziehen ­einige Interessierte an. Hinter der Tischplatte beginnt der Verkäufer zu erklären: Das ist eine andere Welt, und zwar wortwörtlich, sagt der Mann, der sich als Hamza vorstellt. Denn das Magazin trägt auf Französisch den verheißungsvollen Namen Un autre Monde. Die ersten beginnen hineinzublättern, und schnell wird klar: Es ist doch ganz mit der diesseitigen Welt verbunden. Das Magazin entsteht mit Menschen von den Straßen der Hafenstadt in Südfrankreich.
Tags darauf führt die Neugierde, ­diese Marseilleser Straßenmagazinwelt besser kennenzulernen, in das zentrale Stadtviertel Belsunce: Die Projektkoordinatorin und Chefredakteurin Françoise Beauguion hat in das hybride Zwischennutzungsprojekt Coco Velten eingeladen. «Françoise, wie Frankreich», stellt sie sich scherzend vor. Neben Sozialresidenzen, Arbeitsplätzen, Raum für Tanz und Meetings, einer Kantine und Kulturprogramm war das vor Kurzem noch der Ort, wo auch die Straßenzeitung entstand. Ende vorigen Jahres musste das Nachbar:innenschaftszentrum schließen. An diesem Tag aber ist es noch voller Leben, und auch der Kolporteur Hamza sitzt wieder hier und speist neben einer Studentin mit Laptop. Dass die beiden für Un autre Monde Beiträge schreiben, erzählt Beauguion, während sie durch das Gebäude in ihr Büro führt. Mit ihrem Fotokollektiv Vost ­Collectif hatte sie sich auch hier angesiedelt, weil sie kollektives Kreativsein und Engagement suchte.

Stadt bewohnen

Engagement: Das war auch der Titel der ersten Ausgabe von Un autre Monde, und gleich programmatisch. Im Jänner 2021 erschien diese in kleiner Auflage von ein paar hundert Stück, mit einer Illustration eines brennenden Herzens und Menschen unterschiedlichen Geschlechts und unterschiedlicher Hautfarbe darauf. «Sozial, kulturell, solidarisch», das sind seitdem die Grundpfeiler des Magazinprojekts. Die Hefte werden von Menschen in prekären Situationen auf der Straße verkauft. Drei von den drei Euro und 50 Cent Verkaufspreis erhalten sie. Un autre Monde ist also eine Straßenzeitung, aufgemacht wie ein sorgfältig gestaltetes Kunstmagazin, mit jeweils anderen Drucksorten, Fotograf:innen oder Illustrator:innen, die für eine besondere Bildebene sorgen. So eine Straßenzeitung in Frankreich herauszubringen, sei aus politischer und finanzieller Sicht nicht einfach: «Wir müssen wirklich auffallen, denn Vereine werden immer weniger unterstützt», meint Beauguion. Vierteljährlich bringt ein kleines fixes Team zusammen mit weiteren wechselnden Beteiligten ein Heft heraus, dazu macht man Sonderausgaben. Poesie steht neben Erzählungen, künstlerische Portfolios neben Literaturtipps und nützlichen Adressen, Orte und gemeinnützige Vereine werden vorgestellt und jedes Mal einer der derzeit 18 Kolporteur:innen. In der Nummer zwei befragten Hamza und die Chefradakteurin zusammen beispielsweise die Crew von L´Après M – eine Bürger:innenplattform im Norden der Stadt, die eine alte McDonalds-Filiale gekapert hat und dort ein Nachbar:innenschaftszentrum gegründet hat. Beim Besuch in Coco Velten hält Beauguion gerade die Nummer 6 in den Händen, wie jedes ist es ein Themenheft – dieses heißt «Habiter», also «Wohnen».
«Leben in der Stadt, der Gesellschaft, der Welt», steht bei dieser Ausgabe am Umschlag, der über das Titelblatt mit der Illustration eines bunten Straßenplans geheftet ist. In Marseille nicht immer einfach. Vor Erscheinen der Ausgabe war soeben ein sanierungsbedürftiges Haus in einem Viertel, das in Gentrifizierung und Armut steckt, eingestürzt – die Stadt ist in Bewegung, hat kulturell und sozial viele Themen, die Un autre Monde zeigen will. Unterbringung von Bedürftigen und Obdachlosigkeit sind Aspekte, die das Magazin insbesondere begleiten und begleitet. «Méditerranée» oder «Utopie und ­Poesie» heißen andere Ausgaben. «Wir wollen die Vorstellung, was eine Straßenzeitung in Frankreich sein kann, ändern», schildert Beauguion. «Sie muss nicht teuer sein, aber kann auch schön sein.»

Offen für alle

Vom Start des Projekts an nutzt sie ihr Netzwerk in der Kreativ­szene und verlinkt es mit sozialen Anliegen. Viele der Verkäufer:innen werden Teil vom Team. Un autre Monde wolle offen­stehen für alle, meint ­Beauguion, ob das nun Lai:innen, Wissenschaftler:innen, Künstler:innen, Menschen ohne Obdach sind. Auch Übersetzer:innen sind dabei, denn die Magazine erscheinen mehrsprachig, Französisch und Englisch, Farsi, Arabisch. «Marseille gehört denen, die aus dem Meer kommen»: Das Zitat von ­Blaise Cendrars, abgedruckt in der Ausgabe 1 in einem Essay, der im Rahmen der Kunstausstellung documenta entstand, sagt schon viel über die Identität der Stadt, die sich in den Magazinen wiederfinden soll.

Zukunftsvisionen

Seit die Türen von Coco Velten zugesperrt haben, ist auch Un autre Monde ohne Wohnsitz – und bewegt sich einfach noch mehr durch die Stadt als bisher, erzählt die Koordinatorin. Das Magazin macht sich in Bibliotheken, Kulturorten wie dem Centre Photographique und bei Festivals breit und sichtbar, wo es von den Kolporteur:innen vertrieben wird. Die Kollaboration mit dem Kulturzentrum Friche la Belle de Mai (kurz la Friche, das auch in einem sogenannten Brennpunktviertel liegt, was sich mitunter durch die Kulturangebote verändern soll) sei ganz wesentlich. Jeden Montag gehen Hamza und andere dort zum lokalen Essensmarkt und stellen die Ausgaben des Magazins vor, auf der Dachterrasse begleiten sie Abendveranstaltungen mit ihrem Verkaufstisch.
Die nächste Ausgabe soll Interviews von Hamza mit den Lebens­mittelhändler:innen und Produzent:innen auf diesem Markt und anderen Märkten beinhalten, verrät Beauguion. Und es bestehen inzwischen schon einige Partner:innenschaften, etwa mit dem Event Visi­ons d’exil von und mit Künstler:innen im Exil in Marseille. Diese haben auch eine Sonderausgabe gestaltet.
Anfang des Jahres feierte man das dreijährige Bestehen mit einer musikalischen Lesung in einem Theater. «Jede Verkäuferin und jeder Verkäufer und auch das Team des Radios, das zum Projekt gehört, waren da», erinnert sich ­Beauguion. Sie kommen alle auch bei regel­mäßigen Treffen zusammen, etwa in der «Bagagerie», einem Platz für Heimatlose. ­Gerade hat sich ein neuer fixer Ort aufgetan, ­Beauguion ist hoffnungsfroh: «La ­Ruche», ein Co-Working-Space mit einem solidarischen Restaurant gegenüber. «Die kollektive Bewegung dort ist sehr interessant», sagt sie. Vor allem eines beschäftigt sie dieses Jahr allerdings: die Entwicklung von einem Projekt zu einem organisierten Verein. «Wir versuchen, Angestellte zu finden und Dinge anders zu organisieren. Denn Un autre Monde möchte wachsen. «Für uns ist es wichtig, ein Netzwerk aus Menschen mit unterschiedlichem Hintergrund zu knüpfen. Durch die Zusammenarbeit wird es uns gelingen, etwas Interessantes zu schaffen.»

www.journalunautremonde.com

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