«Materialisiert»vorstadt

Lokalmatador 373

Michele Falchetto erfand Papier-Module für Schreibende, die beim Ideen-Ordnen helfen. Von Uwe Mauch (Text) und Mario Lang (Foto).

Am Anfang liegt wieder einmal ein leeres Blatt Papier auf dem Tisch. Bald zeichnet sich oben die fortlaufende Nummer ab: 373; und der Name des neuen Lokalmatadors: Michele Falchetto. Signore Falchetto hat in seinen lichtdurchfluteten Schauraum in der Wasnergasse geladen. Wo man ständig durch die große Auslagenscheibe abgelenkt wird und rausschauen muss. Weil der Blick wie von Zauberhand entlang der Augartenmauer wandert, um am Ende wieder in den Schauraum auf das Blatt Papier zurückzukehren.

Falchetto muss nun erzählen, was er oft erzählen muss: dass er mehr Ungar als Italiener ist; dass sein Urgroßvater in Turin zum Fechtmeister ausgebildet, dann aber nach Budapest gerufen worden war, um einem ungarischen Gutsherrn die hohe Kunst des Säbelführens näherzubringen; dass sein Großvater auch in Budapest gefochten hat, nach dem Weltkrieg allerdings als italienischstämmiger Katholik die Gulaschkommunisten nicht gut schmecken konnte und daher nach Wien emigrierte; dass sein Vater einer der ersten Informatiker in Wien war; und dass sein jüngerer Bruder mit dem Florett bei Olympischen Spielen vorstellig wurde, für Österreich.

Während der 43-jährige Italo-Mitteleuropäer von seiner Familie erzählt, zeichnen sich auf dem Blatt Nr. 373 erste Buchstaben, Wörter und Sätze ab, entsteht im Kopf eine Geschichte: das Porträt von einem Mann, der auf dem Papier Produktentwickler und Firmengründer ist.

Michele Falchetto gilt als Erfinder eines genialen Schreibhefts, dessen Einlegeblätter nicht gebunden sind, sondern durch ein Gummiband zusammen gehalten werden. Der Gummi erlaubt Menschen, die vom Aufschreiben leben, viel Flexibilität. Jederzeit kann er entfernt werden, um den Heftinhalt neu zu ordnen, Blätter hinzuzufügen oder zu entfernen.

 

Der Name der modulen Blattsammlung: Moduletto.

Die Schreibenden in dieser Stadt haben die Papiermanufaktur beim Augarten längst auf ihrem Radar. Sie avancieren zu Stammkunden. Weil ihnen die Ideen nicht ausgehen, weil sich aber Ideen selten linear aneinanderreihen lassen, sondern immer wieder neu geordnet werden wollen.

Ein neues Blatt für die Idee seines Lebens: «Es war eine lange Nacht», erinnert sich der Absolvent der Universität für Angewandte Kunst, der mit eigenem Grafik-Studio jahrelang ausgefallene Sujets für Magazine und Werbemittel entworfen hat. «Wir saßen damals lange, sehr lange mit einem Auftraggeber zusammen. Es war schon spät, als mein Kollege erzählte, dass er das ständige Vor- und Zurückblättern in seinem Notizbuch satt hätte. Nie könne er seine To-do-Listen finden.»

Am nächsten Morgen sieht der Kreative vorerst nur nächtliche Nebel vor seinen Augen, er kann die Augen kaum öffnen. Dann ein Geistesblitz! «Da flattert wie in einem Zeichentrickfilm eine To-do-Liste von einer Stelle im Heft an eine andere.» Der Erleuchtete eilt sofort in sein Studio. «Einen ersten Prototypen für Moduletto hab’ ich noch am selben Tag gebaut.»

An dieser Stelle wird später ein Blatt vorgereiht. Denn auf die Erkenntnis, dass er immer schon modular gedacht hat, ist Signore Moduletto auch nicht gleich gekommen: «Ich habe mir schon in der Schule und später an der Hochschule immer das rausgepickt, was ich für interessant hielt.» Ein guter Gedanke, denn in jeder Ausbildung gibt es gute Pädagog_innen und Menschen, die leidenschaftliche Meister in ihrem Fach sind.

Er selbst sagt, das er einer inneren Stimme folgt, siehe dazu das Blatt zu Moduletto. Und wenn ihm seine innere Stimme sagt, er soll seine Diplomarbeit «Tschüss» nennen, nennt er sie «Tschüss». Und wenn ihm seine innere Stimme sagt, er soll die Software für ein cooles Handy-Spiel (Autorennen) entwickeln, dann bei VW in Wolfsburg anrufen und dem Konzern die Lizenz für das Spiel verkaufen, dann macht er das. Mit dem Erfolg, dass VW jahrelang brav geblecht hat. Weil die niedersächsischen Konzernkostenrechner_innen erkannt haben, was Falchetto drauf hat, auch wenn er mit seinem letzten Ersparten zu ihnen gefahren war.

Die erste Skizze des Moduletto-Systems ist jetzt zwei Jahre alt. Vom Prototyp bis zur Marktreife hat es einige Monate gedauert. Denn es geht nicht von heute auf morgen, dass sich ein Perfektionist festlegt: «Am Ende standen zwei Papierfirmen zur Auswahl, eine sehr exklusive italienische und eine österreichische.» Er entschied sich für seine Landsleute. «Nicht zuletzt deshalb, weil der Klang beim Umblättern Musik in meinen Ohren ist.»

Ein letztes Blatt. Oben steht: Der Prozess der Materialisierung. Schon beim Aufschreiben werden Entscheidungen getroffen. Während der Bleistift das Gehörte aufzeichnet, laufen zeitgleich zahlreiche Prozesse im Gerhirn ab. Ständig abgefragt wird: Was halte ich fest? Was lasse ich weg? Welchem roten Faden der Erzählung folge ich? Welche Fragen sind noch nicht gestellt?

Am Ende sind mehrere Blätter beschrieben. Und es gibt auch schon einen Plan, wie das Porträt Nr. 373 aufgebaut sein soll. Ciao, tschüss, Michele! Die Materialisierung unseres Treffens in deiner Augarten-Manufaktur ging besonders leicht von der Hand.

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