«Hinz&Kunzt» ärgert sich über die Schwesterzeitung aus Wien
Eine Ausprägung der Krise in Europa ist das Anwachsen der wirtschaftlich «abgehängten» Dörfer in Rumänien, Bulgarien, der Slowakei und anderen Ländern Osteuropas. Bei vielen dieser Orte der Perspektivlosigkeit handelt es sich um Roma-Siedlungen. Das Auftauchen ihrer Bewohner_innen in den Städten des Westens und des Nordens wirft ausgerechnet bei Straßenzeitungen, die zu den größten Unterstützer_innen dieser Armutspendler_innen zählen, die Existenzfrage auf. Ein Bericht – und eine Entschuldigung – von Robert Sommer.
Foto: Hinz&Kunzt
Der Anlass dieses Artikels: Der Augustin Nr. 419 («Auch unter der Brücke gibt´s Spießer») publizierte meinen Bericht über die Obdachlosen in Hamburg, der in der Redaktion der dortigen Straßenzeitung «Hinz&Kunzt» zurecht für einige Empörung sorgte, und das aus zwei Gründen. Zum einen suggerierte eine unglückliche Formulierung, dass der Vertrieb dieser Hamburger Straßenzeitung sich gegen eine Aufnahme von Roma aus Rumänien entschieden habe. Zum anderen stellte «H&K»-Chefredakteurin Birgit Müller die berechtigte Frage, warum ich während meines Hamburgaufenthalts keinen Kontakt mit ihrer Redaktion aufgenommen habe. Ich zitierte eine nicht ausgewiesene Quelle (Anmerkung: Diskussion in einer linken Kneipe an der Hafenstraße), laut der «H&K» die Partikularinteressen ihres angestammten Zeitungsvertriebsteams «auf Kosten der Neuankömmlinge aus dem Balkan» verteidige. Professioneller Journalismus aus Wien wäre gewesen, die Schwesternzeitung aus Hamburg mit den Vorwürfen zu konfrontieren. «H&K» ist, wie der Augustin, Mitglied des Internationalen Netzwerks der Straßenzeitungen.
Eine «gemeinnützige» Konkurrenz?
Diese aus Birgit Müllers Sicht unkorrekten Darstellungen aus Wien trafen die Hamburger Straßenzeitung im wohl unangenehmsten Moment ihres Lebens. In der norddeutschen Metropole war nämlich kurz zuvor ein dubioses Konkurrenzblatt aufgetaucht, das den seltsamen Titel «Straße Journal Deutschland» trägt und deren Verkäufer_innen offensichtlich zur Eroberung der Verkaufsplätze von «Hinz&Kunzt»-Leuten angehalten wurden. Einige der mehr als 500 «H&K»-Verkäufer_innen haben deshalb vom Zeitungsverkauf Abstand genommen, weil sie sich an ihrem angestammten Platz bedroht fühlen. Für Birgit Müller sind die Macher dieses Konkurrenzblattes nicht ganz unbekannt. Vor einigen Jahren machten sie dasselbe in den Niederlanden, wo sie die etablierten Straßenzeitungen in Gemeinnützigkeitsstatus rasch in Existenznot brachten. «Gemeinnützig» nennt sich auch das Hamburger Konkurrenzblatt; regionale Medien stellten diese Eigenschaft in Frage und sprechen von purer Geschäftemacherei. Die Artikel der ersten Ausgabe sind übrigens in großem Maß aus anderen Medien raubkopiert.
Wie fühlt man sich, wenn man zu spüren glaubt, von zwei Seiten in die Zange genommen zu sein – von Feind und Freund? Birgit Müller listet, an die Adresse des Augustin gerichtet, die Maßnahmen auf, die ihr Projekt für die Integration der Roma organisiert habe: «Wir haben derzeit 122 Ausweise für Rumän_innen ausgestellt. Bei uns sind die meisten Roma aus diesem Land. Insgesamt haben wir 530 Verkäufer. Wir haben zwei rumänische Frauen als Putzfrauen angestellt, und wir haben mit ‹Spende Dein Pfand› und ‹BrotRetter› zwei Arbeitsprojekte, wo insgesamt sechs Menschen aus Osteuropa als Fahrer, Pfandbeauftragte und Bäckereiverkäufer fest angestellt sind. Wir haben eine rumänische Sozialarbeiterin und stundenweise eine Dolmetscherin. Wir machen seit 2009 auch Lobbyarbeit für Wanderarbeiter_innen. Wir dürften mitursächlich dazu beigetragen haben, dass das städtische Winternotprogramm auch die Osteuropäer_innen umfasst und dass man in Hamburg nicht so schnell räumen kann wie in vielen anderen Städten. Aber wir haben das Dilemma, das auch euch bekannt ist: Es gibt viel mehr Bewerber, als wir aufnehmen können. Und diese Menschen sind tatsächlich in Not. Das sehen wir und stocken deswegen langsam nach und nach auf.»
Straßenzeitungen zu Gratwanderungen gezwungen
In der Tat: «Der Zustrom von Hoffnungslosen aus dem südosteuropäischen Raum und von Heimatlosen aus dem nahöstlichen Raum hinterlässt auch in den Köpfen der gastfreundlich und solidarisch gestimmten Menschen des Gastlandes Irritationen.» Ein Zitat aus dem besagten Augustin-Artikel über Hamburg. Die komplizierte Situation verlangt vor allem von der internationalen Straßenzeitungsszene ein solidarisches Voneinander-Lernen. Die Straßenzeitungen scheinen an vorderster Front auslöffeln zu müssen, was die neoliberale EU-Politik eingebrockt hat: die Wanderungen der Menschen aus Dörfern ohne Perspektive in die großen Städte wie Hamburg oder Wien, wo es zwar ebenfalls keine Perspektiven, aber doch zumindest Almosen gibt. Handeln Straßenzeitungen rassistisch, wenn sie in einer Art kalter Mathematik die Aufnahme von Bewerber_innen reglementieren, um die kulturelle Vielfalt der oft hundert- bis fünfhundertköpfigen Verkäufer_innenteams zu bewahren? Wenn diejenigen, die Hauptopfer des in Deutschland wie in Österreich grassierenden Antiziganimus sind, auch noch von den Vertriebsbüros der Straßenzeitungen nach ethnischen Kategorien eingeteilt und in eine Warteliste geparkt werden, um eine «Multikulturalität» zu sichern, die sich PR-mäßig gut verkaufen lässt?
Für die Straßenzeitungen bedeutet das: eine Gratwanderung nach der anderen. Worin sie durch niemanden behindert werden, sind Reportagen über die Situation in den Herkunftsländern, die den Städter_innen die Unumgänglichkeit der Flucht in den Westen plausibel machen könnten. So hat «Hinz&Kunzt» dieser Tage über das rumänische Dorf Namaesti berichtet. Bis zur politischen Wende gab es hier ein Zementkombinat und eine Möbelfabrik, in denen viele Roma Arbeitsplätze bekamen. Heute sind sie arbeitslos – und dürfen in «ihren» Wäldern nicht einmal Pilze sammeln. Die neuen Eigentümer sagen, dass die «Zigeuner» das Wild vertreiben. Wen wundert´s, dass auch hier die Devise lautet: Wer kann, der geht. In den Städten gibt´s Pilze nur mehr teuer auf dem Markt zu kaufen, aber es gibt Straßenzeitungen wie den Augustin oder «Hinz&Kunzt», an denen schon Hoffnungen kleben, noch bevor die neuen Auswander_innen Hamburg oder Wien erreicht haben.