Mauersplittervorstadt

Walter Ulbricht am 15. Juni 1961: «Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten», zwei Monate später steht die Berliner Mauer. Aber, wo stand sie eigentlich? Mario Lang (Text und Fotos) erkundet 30 Jahre nach dem Fall den 160 Kilometer langen Berliner Mauerweg rund um das ehemalige West-Berlin.

Auszüge aus dem Reiseblog:

1. Etappe:
Von der East Side Gallery nach Lichtenrade.

Die East Side Gallery ist die denkbar schlechteste Wahl für den Einstieg, denn das längste noch erhaltene Mauerstück ist ein touristischer Hotspot. Zwei sich küssende ältere Männer («Bruderkuss» von Leonid Breschnew und Erich Honecker) haben Busladungen von Knipser_innen zur Folge. Die Mauer verkommt zum Zirkus. Eine Stop-and-go-Etappe führt zur Oberbaumbrücke. Die letzten Übriggebliebenen der vergangenen Nacht mühen sich von Friedrichshain über die Spree nach Kreuzberg. Langsam kehrt Ruhe ein. Eine Doppelreihe Kopfsteinpflastersteine markiert den innerstädtischen Grenzverlauf. Verwinkelt und für Spätgeborene kaum real vorstellbar. Ein einsamer ehemaliger Wachturm in Alt Treptow, inzwischen sehr bunt, steht orientierungslos im Park. In Folge wird der ehemalige Grenzverlauf geradliniger und ländlicher. Statt einer Mauer trennt aktuell eine Autobahn die Stadtteile. Felder, Wiesen, kleine Teiche, sehr viel Gegend, bis sich die Gropiusstadt im Hintergrund abzeichnet. Der ehemalige Mauerstreifen ein Erholungsgebiet für Jogger_innen, ein Auslaufgebiet für Hunde samt Besitzer_innen. Am Bahnhof Lichtenrade ist vorerst einmal Endstation.

2. Etappe:
Von Lichtenrade an den Wannsee

Sonntag­morgen. Die Straßen sind leergefegt und die ansonsten überfüllten Straßenbahnen fahren einsam durch die Gegend. Der Bär ist müde, Berlin schläft noch. Selbst der Fernsehturm am Alex vergräbt seinen Kopf unter einer dicken Wolkendecke, es tröpfelt am Asphalt, wie man in Wien sagen würde.
Ab Lichtenrade wird die Mauerspur wieder aufgenommen. Das heutige Teilstück ist etwas kürzer bemessen. Das Wetter ist bescheiden, der Kadaver ist müde. Es geht durch Felder, Wälder und Kirschbaumalleen, immer den Kolonnenweg (DDR-seitiger Teil der innerdeutschen Grenzanlagen) entlang, bis sich nahe Potsdam eine Seenlandschaft ausbreitet. An den Rändern hat sich die Natur den Mauerstreifen zurückerobert, eine wildromantische Strecke, wären am Wegesrand nicht all die Erinnerungstafeln an die unzähligen Maueropfer. Die Fotokamera verbringt den Großteil der Strecke unter der Regenhaut. Finster wird’s, am Wannsee endet die sonntägliche Ausfahrt.

3. Etappe:
Vom Mauerpark nach Henningsdorf

Die Vernunft hat abgesagt. Kultur. Party. Ende? Nie! Dabei hat alles unverfänglich mit einer Sonntagslesung begonnen. In der Luxus Bar in der Prenzlauer Allee performt Hermann Jan Ooster über den «Rhythmus der Hörgeräte» und Kai Pohl verordnet seinen «literarischen Notfallsplan». Auf Kunst folgt Gin-Tonic. Ein Funken Denkvermögen führt dann doch nach Hause.
Um die Mittagszeit wird das Brompton entfaltet und die Route wird gegen den Uhrzeigersinn umgekrempelt. Ein Prachttag. Der Mauerpark in Prenzlauer Berg ist der heutige Null-Kilometer. Etwas nördlicher der ehemalige Grenzübergang Bornholmer Straße. Die Bösebrücke schrieb am 9. November 1989 Weltgeschichte, als um 22.30 Uhr der Grenzübergang für alle Besucher_innen aus dem Ostteil der Stadt geöffnet wurde. Der Anfang vom Ende der DDR. Immer den S-Bahn-Gleisen entlang dünnt sich die Stadt aus. Am Köppchensee an der nordöstlichen Stadtgrenze wird das pulsierende Berlin zur Ruheoase. Lange Geraden führen durch den Berliner Forst und die Stolper Heide bis nach Henningsdorf.

4. Etappe:
Vom Wannsee nach Henningsdorf

Rundum fit beginnt die vierte Teilstrecke mit einer Bootsfahrt über Wannsee und Havel nach Kladow. See folgt auf See. Am Groß Glienicker See steht noch ein kleines Mauerreststück und lässt in einer malerischen Kulisse das Unvorstellbare erahnen. «Geschichte er-fahren» nennt es der Grün-Politiker und Vater des Berliner-Mauer-Radwegs Michael Cramer. Der ehemalige Todesstreifen wird grün und legt sich wie ein Gürtel um die westliche Berlin-Hälfte. Der Artenreichtum von Tier- und Pflanzenwelt floriert im einstigen Sperrgebiet. Ab Spandau führt das sanfte Asphaltband durch den «Grünen Wald». Grün, nicht durch das Laub, das sich längst braun gefärbt hat und die ebene Erde bedeckt. Grün, durch die von Moos bewachsenen, kahlen Baumstämme. In Henningsdorf ist wie gestern (aus anderer Richtung kommend) Endstation. Berlin am Rand ist abgeradelt, morgen wartet die Kernzone.

5. Etappe:
Von der Bernauer Straße zur Schillingbrücke

Heute bleibt das Brompton zusammengefaltet. Der Verlauf der Mauer durch die Stadt will erwandert werden. Der Mauerpark (Start) grenzt an die Bernauer Straße, die 28 Jahre lang von der gleichlaufenden Eberswalder Straße getrennt war. Hier ermöglichte ein Podest auf westlicher Seite Tourist_innen und Berliner_innen einen Blick über die Mauer in den Osten. Wie im Zoo. Zahlreiche Hinweistafeln, großflächige Fotos und Hörbilder erzählen von geglückten Fluchten, Todesfällen und schmerzhaften Trennungen. In den Baulücken werden Nordland-Tannen verkauft. An der Gedenkstätte Bernauer Straße steht noch ein 200 Meter langes Stück originaler Mauer. Es folgen Reichstag, Brandenburger Tor und der Potsdamer Platz. Mit jedem Schritt werden die Szenen skurriler. Eine Winterrodelbahn samt angeschlossenen Punschständen sorgen für Hüttengaudi gleich neben dem Mauerstreifen. In der Erna-Berger-Straße unweit des Potsdamer Platzes trägt ein ehemaliger Grenz-Wachturm eine Weihnachtmann-Mütze XXL. Curry On The Wall verkauft Würste, und am Checkpoint Charlie gibt es Russenmützen im Sonderangebot. Die Mauer wir zum Rummelplatz. Schnell weiter. Verwinkelt schlängelt sich die Mauerführung durch Kreuzberg. Wer sich nicht sicher ist, wo jetzt der ehemalige Osten liegt, orientiert sich am besten an den Neubauten, da war einmal Osten. Kreuzberg ist eine einzige, große Baustelle. Die Schillingbrücke spannt sich über die Spree und mit ihrer Überquerung schließt sich der Kreis – die 160 Mauerkilometer sind komplett.

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