Mehr als ein TattooArtistin

Alle 24 Sekunden ist eine Frau in Brasilien Opfer von häuslicher Gewalt. Messerstiche, Schüsse und Zufügung von Verbrennungen sind die üblichen Gewaltformen. Flavia Carvalho übertätowiert die Narben, die dadurch entstanden sind. Ende Juni ist die 37-jährige zweifache Mutter in Wien.

INTERVIEW: SÓNIA MELO

2015 haben Sie das Projekt A Pele da Flor ins Leben ­gerufen, ein kostenloses Angebot an Frauen, die häusliche Gewalt überlebt haben und davongetragene Stichwunden oder Verätzungen übertätowieren möchten. Gab es einen Anlass dafür?
Flavia Carvalho: Eines Tages kam eine Frau in das Tattoo-Studio, in dem ich damals gearbeitet habe, mit einer Narbe am Unterleib, die sie mit einem Tattoo überdecken wollte. Während ich ihre Narbe übertätowiert habe, erzählte sie mir, wie es dazu kam. Ihr Ex-Freund hatte in ­einem Kaffeehaus mit einem Messer auf sie eingestochen, sie musste notoperiert werden und hat knapp überlebt. Als ich die letzten Stiche machte, war sie wie ausgewechselt: Sie sprühte vor Freude. Das hat mich sehr berührt. Jahre später, als ich mein eigenes Tattoo-Studio eröffnet habe, beschloss ich, das regelmäßig und kostenlos anzubieten. 2015 startete ich das Projekt A Pele da Flor, ein Wortspiel mit dem Spruch «Unter die Haut» (Anm: auf Portugiesisch «à flor da pele» bedeutet wortwörtlich übersetzt: auf der Blume der Haut). Somit bedeutet A Pele da Flor «Die Blume der Haut», denn meine Klientinnen nenne ich meine Blumen, meine Mädchen.
Es gibt kaum eine Frau in Brasilien, die nie Gewalt durch Männer erlebt hat. Brasilien gehört weltweit zu den gewalttätigsten Ländern gegenüber Frauen. Kaum ein Tag vergeht ohne eine Meldung in den Medien über Frauenmord oder versuchten Frauenmord. Erschreckend, wie sehr die brasilianische Bevölkerung sich an solche Nachrichten gewöhnt hat.

Wie erfahren die Frauen von dem Angebot?
Als ich beschloss, A Pele da Flor ins Leben zu rufen, trat ich in Kontakt mit der Gemeinde von Curitiba, wo ich lebe. Ich dachte, dass solche Verbrechen vorwiegend in ländlichen Regionen vorkommen. Ich ahnte nicht, dass in Curitiba, einer Stadt mit fast zwei Millionen Einwohner:innen, so viele Fälle von häuslicher Gewalt gemeldet werden. Ich startete eine Kooperation mit der Gemeinde, um die Frauen über Frauenhäuser zu erreichen. Außerdem unterbreiten auch NGOs, die Frauen beraten und unterstützen, mein Angebot an ihre Klientinnen.

Wer sind die Frauen, die zu Ihnen kommen?
Die Mehrheit meiner Klientinnen ist erschreckenderweise sehr jung, noch im Jugendalter, unter 20 Jahre alt. Das ist auch kulturell bedingt. In Brasilien beginnen wir sehr früh, Paarbeziehungen einzugehen. Die meisten der Frauen, die zu mir kommen, stammen aus ökonomisch eher schwachen Schichten, aus ärmeren Familien. Deswegen verlange ich kein Geld dafür. Ich bekomme keinerlei finanzielle Unterstützung. Es gibt keine öffentlichen Förderungen dafür. Gelegentlich bekomme ich Spenden, Lieferant:innen bieten mir Rabatte für Materialien an und meine Klientinnen überhäufen mich mit Geschenken.

Gibt es viel Nachfrage? Wie viele Frauen haben Sie mit A Pele da Flor tätowiert?
Leider ist die Nachfrage groß. Ich bekomme laufend Anfragen und habe vor Jahren bei knapp 300 Klientinnen aufgehört zu zählen.
Ich nehme an, die Frauen bestimmen die Tattoo-Motive? Gibt es welche, die für Narben besser geeignet sind?
Manche Frauen überlassen mir die Wahl, andere haben genaue Vorstellungen von dem Tattoo, das sie möchten. Der Prozess beginnt mit einem Gespräch. Wir unterhalten uns über Motive, aber auch über Größe und Stil des Tattoos. Oft zeichne ich das Motiv direkt auf der Haut, oder auf Papier oder digital. Wichtig ist, dass das Tattoo die ganze Narbe überdeckt. Dafür bietet sich die Blume an. Die Blume ist ein übliches Motiv, denn sie ist nicht nur ein weibliches Symbol, sie ist technisch gut umsetzbar, denn ich kann die Blume so mit einer Füllung tätowieren, dass sie die ganze Narbe bedeckt. Die Tattoos sind sehr bunt, auch Tiere sind ein übliches Motiv. Hier in Brasilien sind bunte ­Tattoos sehr beliebt.

Ist es schmerzhafter, sich auf einer Narbe tätowieren zu lassen als auf unverletzter Haut? Und ist es für Sie schwieriger, über Narbengewebe zu tätowieren?
Beides ist von vielen Faktoren abhängig: ob die Operation gut durchgeführt wurde und der Heilungsprozess medizinisch gut begleitet wurde oder nicht, wie groß die Verätzung oder Stichwunde ist, etc. Entweder ist die Struktur der verletzten Haut empfindlicher und es nimmt mehr Zeit in Anspruch für die Übertätowierung oder, im Regelfall, vor allem bei Verbrennungen, hat die Haut an Sensibilität verloren, weil ein Hauttransplantat durchgeführt werden musste, dann ist es für die Klientin weniger schmerzhaft. Und letztlich kommt es auch auf die Sensibilität der Frau an. Manche Frauen sind schmerzempfindlicher als andere.

Auf welche Art von Verletzungen sind die Narben zurückzuführen?
Das Projekt bildet die Statistik der Gewalt an Frauen in Brasilien ab. An erster Stelle sind Verletzungen durch sogenannte weiße Waffen, also mit scharfen Gegenständen, weil jeder ein Kochmesser, Springmesser oder eine Schere zuhause hat. An zweiter Stelle sind Schusswaffen, auch wenn die Überlebensrate bei dieser Waffengewalt sehr niedrig ist. An dritter Stelle sind Verbrennungsnarben.
Ich tätowiere auch Frauen, die sich einer Brustamputation unterziehen mussten, sowie Frauen, die Narben im Zuge von Selbstverletzungen haben. In Brasilien ist die Selbstverstümmelung vorwiegend Frauen zuzuordnen und steht in engem Zusammenhang mit der psychischen Gewalt, die sie erleiden.

Dabei geht es um mehr als Narben übertätowieren. Ist A Pele da Flor ein feministisches Projekt?
Ich bin keine ausgebildete Psychotherapeutin, aber der Prozess, vom ersten Gespräch bis zur Fertigstellung der ­Tattoos, ist durchaus ein therapeutischer. Die Frauen erzählen mir von dem Übergriff, von ihren toxischen Beziehungen, es wird dabei sehr oft sehr emotional. Sie weinen und ich weine mit. Mit vielen der Frauen entsteht eine Freundschaft, sie posten in ihren Social-Media-Kanälen Selfies in Bikini, zeigen dabei ihre Tattoos, die Narben darunter, ohne Scham. Sie erzählen mir, dass das Tattoo ihr Leben verändert, ihren Umgang mit ihrem Körper, der Narbe und mit der damit einhergehenden Gewalterinnerung verbessert, ihren Selbstwert gestärkt hat.
A Pele da Flor ist definitiv ein feministisches Projekt, von Solidarität unter Frauen, die in dieser zutiefst patriarchalischen Realität in Brasilien leben. Es erfüllt mich sehr, diesen Frauen durch meine Kunst und meine Arbeit helfen zu können, ihre Beziehung zu ihren Körpern zu verbessern, sie dabei zu unterstützen, die Wunden von der Gewalt, die sie erlebt haben – auf der Haut, aber auch in ihren Seelen –, zu verarbeiten und zu heilen. Das ist meine Lebens­aufgabe.

Instagram und Facebook: daedracwb
flavia.apeledaflor

Liebe Augustin-Leserinnen!

Flavia Carvalho ist von 24. bis 26. Juni in Wien. Am Samstag hält sie einen Vortrag bei der ersten Fachmesse der Landesinnung FKM Wien (Fußpfleger:innen, Kosmetiker:innen und Masseur:innen) FKM trifft auf Genuss im Aux Gazelles in der Rahlgasse 5 im 6. Wiener Bezirk. Sie bietet Augustin-Leserinnen, die Narben aus häuslicher Gewalt übertätowieren möchten (Stichwunden, Verätzungen, etc.) Beratung durch ein Infogespräch vor Ort an, über die Art von Tattoo, die auf der verletzen Strukturmöglich ist, zeichnet und setzt das Tattoo am Freitag 24. Juni im Wiener Tattoo Studio Dunkelbunt um. Das Angebot ist kostenlos. Anmeldung bis 20. Juni bei Susanne Erlach unter m.b.m@gmx.at

 

Foto: Weil Roberta an einem heißen Tag eine kurze Hose trug, zündete diese ihr Ex-Mann an. ­Seitdem Flavia Carvalho die Narbe auf ihrem Oberschenkel übertätowiert hat, trägt sie ­wieder regelmäßig kurze Kleider und Hosen (Flavia Carvalho, A Pele da Flor)
Translate »