Mehrfach in der Krisetun & lassen

Armutsbetroffenheit, Corona und der Lockdown. Die Sozialwissenschaftlerin Evelyn Dawid hat erforscht, wie langfristige und neue Arme die Mehrfachkrise erleben.

Interview: Christian Bunke
Foto: Jana Madzigon

Sie haben im Auftrag der Armutskonferenz eine qualitative Erhebung unter Armutsbetroffenen während der Corona-Krise durchgeführt, sich also mit Menschen getroffen, damit die Ihnen über ihre Situation erzählen. Doch über Armut spricht man in Österreich nicht gern, das ist sehr schambehaftet. Hat sich das auf Ihre Untersuchung ausgewirkt?

Evelyn Dawid: Tatsächlich war unsere Studie ganz nah dran an den Menschen. Es musste sehr schnell gehen, wir hatten nur drei Monate Zeit. Wir haben auf Gruppengespräche gesetzt. So können sich Gespräche und Diskussionen entwickeln, das war für dieses Thema wichtig. Wir wollten ursprünglich sechs Gruppen machen, haben aber nur fünf zustande bekommen. Da kann Scham durchaus eine Rolle gespielt haben. Wir hatten keine Probleme bei den Gruppen, die aus Personen mit längerfristiger Armutserfahrung bestanden. Diese Menschen hatten oft schon Kontakt zur Armutskonferenz gehabt, kannten uns also schon und wollten auch politische Forderungen loswerden. Bei den erst durch Corona in die Kurzarbeit oder Erwerbslosigkeit abgerutschten Menschen war es schwieriger. Bei denen waren wir zu früh dran. Hier werden sich viele Auswirkungen erst in vier bis fünf Monaten zeigen.

Es gab also Unterschiede zwischen den Gruppen? Woran lässt sich das festmachen?
Für Menschen mit längerer Armutserfahrung war Corona in mancher Hinsicht ein viel größeres Problem. Es gab viel Kritik am Lockdown und an der Kommunikationspolitik der Regierung. Viele wussten nicht mehr, was sie jetzt eigentlich dürfen und was nicht. Ihnen war es dann aus Angst vor hohen und für sie nicht leistbaren Geldstrafen auch unmöglich, auf die Straße zu gehen. Wer dennoch draußen war, musste teilweise sehr unangenehme Erfahrungen mit der Polizei oder Sicherheitsdiensten machen. Es gab teilweise mehr Angst vor der Regierung als vor der Infektion selbst. Vereinsamung ist zu einem großen Problem geworden. Ängste, Depressionen und Aggressionen sind massiv aufgetreten. Treffpunkte, die dies auffangen hätten können, waren aufgrund von Corona geschlossen oder nicht mehr erreichbar. Das war schwer zu ersetzen. Bei den Künstler_innen war es wieder anders. Die sind zu Beginn des Lockdowns in ein schwarzes Loch gefallen, konnten sich dann aber großteils auffangen.

Wie haben die das denn geschafft? Kulturschaffende hat die Krise doch schwer getroffen?
Das stimmt. Auftrittsmöglichkeiten sind ja komplett weggefallen, somit auch die Einnahmequellen. Viele haben sich dann selbst geholfen, indem sie zum Beispiel Onlineauftritte organisiert haben. Damit konnten sie die Depression bekämpfen, aber auch Geld verdienen. Insgesamt hat die durch Corona hervorgerufene Ausnahmesituation aber die beschämende Lebenssituation von Künstler_innen deutlich gemacht. Wir hatten Leute in den Gruppen, die in etablierten Theatern arbeiten, auch für die Wiener Philharmoniker spielen. Die kriegen unter «normalen» Bedingungen nicht einmal so viel gezahlt, wie eine teure Eintrittskarte kostet. Das machen sie nur mit, weil ihnen ihr Beruf wirklich extrem am Herzen liegt. Mit Corona hat die Gesellschaft den Künstler_innen dann gesagt: Eure Arbeit ist nichts wert, ihr werdet fallen gelassen. Das war eine Bruchlinie, die schon vor der Krise angelegt war, jetzt aber deutlicher zutage getreten ist.

Hat es solche Bruchlinien auch an anderer Stelle gegeben?
Ich würde sagen, ja. Corona macht Bruchlinien und Missstände sichtbar. Die ersten Cluster gab es in Fleischfabriken und bei Erntearbeiter_innen, eben dort, wo es besonders zweifelhafte Arbeitsbedingungen gibt. Die sind dann für die Allgemeinheit sichtbar geworden. Ein Effekt der Krise war aber auch, dass mit der Corona-Zeit bereits vorher armutsbetroffene Menschen plötzlich unsichtbar geworden sind. Keiner hat mehr über sie geredet. Viele haben gedacht: Die kriegen ja eh ihre Sozialleistungen. Das stimmt aber so nicht. Viele, die von Arbeitslosengeld, Notstandshilfe oder Mindestpension leben, sind zusätzlich geringfügig beschäftigt. Die verdienen bis zu 460 Euro im Monat, das kann bei einer niedrigen Notstandshilfe ein Drittel des Einkommens ausmachen. Mit den Corona-Lockdowns war das plötzlich weg. Das macht einen massiven Einschnitt aus.

Konnten Sie auch Einschnitte bei der Wohnsituation der Menschen beobachten?
Interessanterweise nein. Wohnen war vordergründig kein Problem. Probleme sind aber dadurch entstanden, dass sich das ganze Leben auf die eigenen vier Wände reduziert hat. Zum Beispiel waren fast alle befragten Mütter alleinerziehend. Unter Müttern mit Armutserfahrungen gibt es überdurchschnittlich viele Alleinerziehende, insofern war das nicht überraschend. Nun mussten diese Alleinerziehenden mit dem Lockdown und dem Homeschooling zurechtkommen. Es gab aber in keinem der von uns befragten Haushalte genügend Laptops, oft nur einen einzigen für die ganze Familie. Da haben die Familienmitglieder dann versucht, sich den Familienlaptop in Schichten einzuteilen. Auch schnelle Internetverbindungen waren vor allem unter Menschen mit längerer Armutserfahrung kaum vorhanden. Schüler_innen haben versucht, mit ihren Handys Hausübungen zu machen, was kaum funktioniert hat. Viele hatten außerdem keine Drucker oder Scanner bei sich zuhause. Es mussten aber Antragsformulare an das AMS geschickt oder Bewerbungen ausgedruckt werden. Normalerweise geht das kostenlos beim AMS, das war aber im Lockdown geschlossen. Hier gab es einen Unterschied zu den Menschen, die als Einpersonenunternehmen tätig sind. Die hatten daheim bessere Büroausstattung.

Wenn die Menschen dermaßen auf ihre Privaträume zurückgeworfen wurden, hat das dann auch die Rolle der Familie gestärkt?
Vor allem die Abhängigkeit zum Elternhaus ist stärker geworden. Die war aber vorher auch schon gegeben. Private Netzwerke waren für alle Teilnehmenden wichtig. Das hat alle Gruppen betroffen. Viele mussten in der Corona-Situation Schulden machen. Manche haben sich an ihren Freundeskreis gewandt, Freund_innen muss man Schulden aber eher zurückzahlen. Deshalb ist bei vielen Menschen das Elternhaus eingesprungen. Dort ist der Druck, Geld zurückzahlen zu müssen, wesentlich geringer.

Sind denn auch finanzielle Hilfestellungen bei den Menschen angekommen?
Hier hat es Verwirrungen und auch Konflikte gegeben. Zum Beispiel gab es zwei Familienfonds. Es gab einen Familienhärtefonds für jene, die vor März 2020 erwerbstätig gewesen waren. Dann gab es den Familienkrisenfonds für jene, die vorher schon erwerbslos waren. Vielen war nicht bewusst, dass es zwei unterschiedliche Fonds gibt. Chatgruppen entstanden, wo beide aufeinanderstießen und es dann Anfeindungen gab nach dem Motto: Warum kriegen Langzeitarbeitslose jetzt Geld, die kriegen doch eh schon Sozialleistungen, die haben doch nicht weniger als vorher? Wie schon gesagt, stimmt das so nicht, denn eben diese Gruppe hatte Verluste aufgrund ausgefallener geringfügiger Beschäftigungsverhältnisse.

Sind solche Spaltungen zwischen den Armutsbetroffenen auch an anderer Stelle aufgebrochen, zum Beispiel zwischen den Generationen?
Es gab einen drastischen Fall, wo eine alte Frau beim Einkaufen von jüngeren Menschen sehr hart angegangen wurde. Die haben ihr vorgeworfen, der Jugend die Zukunft kaputt zu machen. Hier zeigt sich eine Auswirkung der Regierungskommunikation, die immer gesagt hat, der Lockdown sei nötig, um die Alten zu schützen. Ich bin aber vorsichtig, hier zu generalisieren. Welche Auswirkungen die Corona-Pandemie auf die Einstellungen der Menschen hat, wird man erst in Zukunft sehen. Was die Situation der Menschen, die von Armut betroffen sind, anlangt, muss man genau beobachten, was geschieht, wenn es nach der Krise zu staatlichen Sparmaßnahmen kommt. Ich halte eine neue qualitative Studie im Frühling oder Sommer für sinnvoll, da wird vieles klarer sein.