Meine CousineDichter Innenteil

Milanka. Hinter Nina und Sara stand sie leicht gebückt, eine Zigarette hielt sie in der Hand. Lange Aschenspur. Pagenkopf blondiert. Das Gesicht kantig dunkel, ein gelblicher Teint, Augenbrauen dünn gezupft, spitzes Kinn, Wangen eingefallen, leichter Damen-Schnurrbart. Ringe unter den Augen.

Mit ihren dunklen Augen blickte sie weit in die Ferne, unter dem weißblau gestreiften T-Shirt die Haut des Bauches. Ihre große Oberweite empfand sie heute extra schwer und obwohl ihr Körper korpulent erschien, sah man ihrem Gesicht an, wie sehr ihre Mutterseele erschöpft war. Schweigend blickte sie, als hätte sie was Lautes zu erzählen. Haben sich die Erinnerungen vielleicht nach vor gedrängt? Und doch war sie jederzeit bereit, den kleinen weißen Koffer aufzumachen…

Meine Cousine, was ist nur in diesen zwei Jahren geschehen. Weshalb dieser seltsame Glanz. Sie stand, als würde sie mit ihrem Da-sein eine friedlichen Atmosphäre schaffen, als verstünde sie, meiner hilflosen Seele und meinem nervösen Magen Ruhe zu spenden. Nicht einmal als ich den Koffer aufheben wollte, um wegzugehen, reagierte sie. Was war los mit ihr, so kannte ich sie nicht, früher hätte es ordentlich gekracht zwischen uns.

Sie wäre viel früher weggegangen als ich, aber jetzt stand sie da fast wie eine Bettlerin, demütig und majestätisch zugleich. Ich erinnerte mich, wie sie damals vor zwei Jahren mit unserem Onkel Drago stritt, als er seinen ganzen Monatslohn verwendete, um neue Betten zu kaufen. Er kannte seinen Vater nicht, man erzählte, er war Jude, der im Krieg fiel.

Ein goldenes Herz hat unser Onkel Drago. Als Milosevic für Inflation sorgte und Onkel Drago als der einzige gebildete Roma in unserer Familie als Traktor-Maschinen-Techniker in Belgrad arbeitete und sein Monatslohn nicht einmal für Zigaretten reichte, wollte sie ihm keine Zigarette geben damals, wo er so gerne eine zum Kaffe geraucht hätte. Doch jetzt stand sie da, zerbrochen wie ein zerbrochener Blindenstab, wie nach einem Erdbeben, das nur einen Weg frei ließ, nämlich den Weg nach Ostrog.

Alles hätte sie getan, um diese Reise nicht zu verpassen. Nur dieser Pilgerort kann meine Nina retten, dachte sie laut. Diese unberechenbare Krankheit, die ihr Kind in tiefes Koma trieb, das es erblinden lassen kann, wann es will. Und was, wenn Nina doch nicht gesund wird in Ostrog?

Werden sie wieder zittern, ob man dieses Mal genügend Geld für Insulin zusammen kratzen kann? Werden sie wieder spät in der Nacht an die Türe von Dusa anklopfen? Sie schulden ihr so viel schon. Zwei Jahre geht das schon…

Eine serbische Romni als Schwiegertochter?

In diesem Winter war sie barfuss mit dem Kind in den Armen den ganzen Weg Richtung Spital gelaufen. Niemand von den Nachbarn hörte ihre Hilferufe. Niemand stellte sein Auto zur Verfügung. Auf die Rettung konnte sie nicht warten. Regungslos lag der Kinderkörper in ihren Händen wie ein abgeknickter Ast im Winde. Immer wieder blieb sie kurz stehen, um zu hören, ob Herz der Tochter noch schlug. Tränen fielen auf sie.

Verzweifelte Rufe. Komm, mein Kleines. Wach auf! Du wirst es schaffen. Versprich mir, dass du es schaffst! Bitte, Gott, lass sie leben, nimm mein Leben dafür, aber lass sie am Leben.

Den kalten Schnee unter den nackten Füßen fühlte sie nicht, auch die Menschen, die neben ihr vorbei sausten, verzerrten sich wie schwarze Silhouetten. und wieder blieb sie stehen, um das Ohr auf magere Brustknochen zu legen, es tickte langsam so langsam, dass man es fast überhörte wegen des jaulenden Winds und des eigenen Herzpumperns.

Mit durchgefrorenen Fingern versuchte sie auf die Pulsadern zu treffen, jeden Augenblick konnte etwas zerplatzen, das Mutterherz oder die junge Seele, die sich leise verabschieden könnte. Ohne dass man ihr zuvor noch wenigstens eine Schokolade geben könnte, ohne dass man ihr noch ein letztes Mal sagen könnte, wie sehr man sie liebt und wie unwichtig es jetzt sei, wie viele Schokoladen man essen darf. Das alles zählte nicht mehr, in diesem einen Augenblick fragte man nur: Wird sie es noch ins Spital schaffen?

Jetzt stand sie da, in diesem warmen Sommernachmittag, wie ein Felsen, und doch als würde sie jeden Augenblick zusammenbrechen, nachdem man ihr den schweren Rucksack abgenommen hat. Sie sagte nichts und so gerne hätte sie bis zum letzten Stern empor gejault, ein langes Schreien wäre es gewesen, eine heisere Stimme hätte sie dabei bekommen. Ein Schreien, um den zwei Jahre alten Sauerstoff endlich los zu werden, damit frischer Atem, ausreichend gleich für mehrere Jahre in die Lunge strömt. Sie hätte allen Grund, mit vollem Recht zu brüllen, nur tat sie das nicht vor den Kindern, so wie ich es getan habe. Ihr Schicksal, den Heiligen Nikola, ihr Leben hätte sie verflucht: Warum s i e nicht krank geworden sei, sondern dieses kleine Ding, ihr einziges, was sie noch hat…

Seit Jahren lebt sie allein. Jasmin, der Vater von Nina, lebt vielleicht gar nicht mehr, er ist im Krieg gewesen, in Vukovar, ein paar Mal hat sie in Mostar angerufen, in seinem Haus dort leben jetzt andere Leute, die Jasmin nicht kennen. Sie ist aus Kroatien vertrieben worden, als sie schwanger mit Nina war. Nicht aus politischen Gründen, sondern weil die moslemische Schwiegermutter keine serbische Romni als Schwiegertochter wollte, die zudem schon knapp 30 ist und schon andere Männer hatte…

Für kurze Zeit könnte man denken, meine Cousine sei eine Ikone, unecht und doch so nah, wie ein Gefäß für Liebe, Demut und Ruhe. Die sanften Linien in ihrem Gesicht und dann dieser Ausdruck, der einem verletzten Reh gleicht. Augenbrauen, von einem Schmerz leicht nach oben gezogen wie zwei Regenbogen nach einem Frühlingsgewitter. Ein Schimmer von Hoffnung, vergleichbar mit einer Mutter, die täglich vor dem Hauseingang steht und wartet, und bei jedem schwarzen Punkt, der in der Ferne auftaucht, seufzt: Vielleicht ist das mein geliebter Sohn!

Meine Cousine – und doch eine andere. Dieser stolze lehre Blick, dem ich das letzte Mal vor zwei Jahren begegnete – und jetzt dieses Leuchten…

Wie hat mich der Westen verändert?

Ostrog, die einzige Rettung für Nina, dieser heilige Platz tief in den Bergen. Was ist eine zehnstündige Fahrt im Vergleich zu zwei Jahren voll Leid, Armut, Verzweiflung und Angst.

Ich saß auf der Bank und fühlte langsam. wie die Hitze von mir entwich und meine Knie ruhiger wurden. Jetzt ließ ich meine Hände hinunterfallen und atmete erleichtert auf. Sofia spielte mit Babys auf der Bank neben mir. Vera strickte, die lange silberne Nadel erzeugte eine sanfte Melodie. Sara und Nina saßen auf einer anderen Bank und blätterten in der Zeitschrift.

Ein warmer Wind brachte von irgendwo einen Piniengeruch. Meine Augen suchten den Blick meiner Cousine und wie als ahnte sie, dass ich jetzt erst Mut fasste, ihr in die Augen zu schauern, blickte sie zu mir zurück. Wie wenn sie die ganze Zeit darauf heimlich gewartet hätte, als wollte sie mir in dieser einen Sekunde ihre zwei Jahre enthüllen. Ich glaube, dass ich rot wurde, ich schämte mich jetzt, es tat mir leid, dass ich immer mit Stirnfalten die weiße Fahne ausgepackt hatte. Sie blickte mich liebevoll an, als würde sie mir durch diesen einen Blick alle ihre Schmerzen offenbaren, mir, die kürzlich noch so eine schlechte Meinung vor ihr hatte. Trauer überfiel mich jetzt, am liebsten wollte ich sie umarmen und ihr sagen, es tut mir leid für alles, es tut mir leid, dass ich dir nur diese eine Reise nach Ostrog anbieten kann, dass ich dich damals nicht durch denn Schnee begleitete, dass ich auf die verpackten Süßigkeiten niemals die kleinen Buchstauben gesucht habe. Obwohl ich wusste, dass Nina seit zwei Jahren krank war, habe ich nicht e i n m a l daran gedacht, dich anzurufen.

Während meine Cousine in diesen zwei Jahren auf dem schmalen Grat zwischen Leben oder Tod schreiten musste: Wer bin ich in diesen zwei Jahren in der Fremde, in Wien geworden? Diese Veränderung in meiner Cousine – und meine Veränderung. Was unterscheidet uns? Vielleicht dass man im Westen brüllende Stimmen besser versteht, dass man statt Geduld und Ausdauer immer bereit ist, die weiße Fahne zu hissen. Immer bereit, schnell aufzugeben.

Das Schicksal hatte meine Cousine von einer Raupe zu einem schönen Schmetterling verwandelt. Es war kein Schmerz, der die große Nase zur kleinen verwandelte, nein, es war diese innere Operation. Wie Puzzels fügte sich nun vor meinen Augen das neue Bild meiner Cousine zusammen.

Jetzt sah ich vor meinen Augen einen Wetzstein, einen großen holprigen Onyx, ein goldenes Gefäß. In einer seltsam zarten Hand lag dieses goldene Gefäß, die Tränen tröpfelten hinein, dann begann sich der Wetzstein zu drehen und der schwarze Klumpen verwandelte sich immer mehr in einen leuchtenden Diamanten. In diesem zweijährigen Dornenweg blieb für meine Cousine eine unsichtbare Werkstatt in Betrieb, der leise arbeitete, ohne Strom. Nur die Tropfen, die vom Gesicht hinunter rollten, vermochten die schwere verrostete Drehscheibe in Betrieb zu setzen. Wusste sie, dass Leid ihr gut steht? Eine kalte Gänsehaut überzog meinen ganzen Körper, ein paar Mal schüttelte es mich. Ich begann zu ahnen, dass auch ich bald eine Veränderung erleben werde. Die mit vielen Tränen zu bezahlen sein würde. Ich wusste: So wie ich in diesem fremden Land all die Jahre lebte, so war es nicht vom Schicksal bestimmt.

Jetzt hörte ich eine zarte Stimme: Aus einem zerbrochenen Herz kann solch ein Glanz kommen. Nur ein zerbrochenes Herz hat die Ruhe im Sturm, ein zerbrochenes Herz kann selbstlos lieben und nur ein zerbrochenes Herz ist stark, wenn es schwach ist. Bis du bereit, mein Kind?

Ich fühlte, wie große warme Tropfen aus meinen Augen liefen, und ein leises Ja kam über meine Lippen…

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