Es begann mit einer Krise. Ich hatte keine, weil ich davon nicht viel mitbekommen habe. Aber meine Lehrerin musste eine gehabt haben. Sie war hin und her gerissen, wusste lange nicht, wie sie mit mir verfahren sollte. Ich war in der Schule irgendwie da und nicht da. Ich habe keine Erinnerungen an den Alltag in der Schule.
Grafik: Karl Berger
Was hat die Lehrerin vorgetragen, was hat das mit mir gemacht? Ich weiß nicht mehr, wie ich das Alphabet, wie ich die Grundrechnungsarten gelernt habe. Ich habe es gelernt, aber es hinterließ keine Erinnerungsspuren. Wo waren meine Emotionen, das gibt es doch nicht, dass ich keine gehabt habe. Aber ich erinnere mich an etwas anderes.
Meine erste Lehrerin war eine für meine damaligen Begriffe alte Lehrerin, eine erfahrene Lehrerin, heute sage ich: Gott sei Dank. Ich war äußerst teilnahmslos gegenüber der Schule. Meine Lehrerin konnte mich mit ihren Angeboten sicher nicht erreichen. Ich kümmerte mich nicht, was ich in der Schultasche hatte. Es war immer dasselbe drin. Was ich irgendeinmal hineingegeben habe, das hatte ich dann für lange Zeit drin, und ich trug es dann mit mir herum, von zu Hause zur Schule und umgekehrt. Eine Zeitlang wollte meine Lehrerin daran etwas ändern. Sie schrieb Briefe an meine Eltern, die sie meiner Schwester Rosi mit auf den Weg gab. Sie ging damals bereits in die fünfte Klasse. Meine Schwester Rosi war sehr verantwortungsvoll, eine zuverlässige Briefträgerin. Was in den Briefen geschrieben stand, muss ich durch meine Fantasie ergänzen. Wissen tu ich gar nichts.
Auf alle Fälle nahm mich meine Mutter eines Tages her. Meinen Vater schien das alles gar nichts anzugehen. Meine Mutter meinte, sie müsste mit mir die Hausaufgabe machen. Ich machte nie Hausaufgaben. Ich wusste kaum, was für eine Hausaufgabe ich machen sollte. Jedenfalls nicht genau, also etwas schreiben, so und so viele Zeilen, nur ungefähr in Rechnen, na ja, da ist schon was, aber was, weiß ich nicht genau. Das machte meine Mutter rasend. Sie nahm die Schultasche zur Hand, fetzte die Hefte heraus und schmiss sie auf den Tisch, auch die Schulbücher, um sie nach Hinweisen zu untersuchen. Ich sah ein Gewitter sich über meinem Kopf zusammenziehen, ich wurde immer steifer und gelähmter. Da würde es bald Fotzen geben. Heute komme ich dran, es gibt kein Entkommen. Sie wurde fündig, es stand irgendwo geschrieben: «Hausaufgabe»: in ungeschickter Malschrift dies und das. Ich hatte es von der Tafel abgemalt, aber ohne jede innere Beteiligung.
Meine Mutter war eine gute Schülerin gewesen. Sie ging nur bis zum 12. Lebensjahr in die Schule. Man brauchte sie zur Arbeit auf dem Hof. Sie las wirklich gut und schnell. Im Gegensatz zu meinem Vater. Sie rechnete auch gut und alles im Kopf.
Gut, heute war Rechnen angesagt. Es muss etwas im Brief gestanden sein, so in der Art: «Ihr Sohn kommt regelmäßig ohne gemachte Hausaufgaben in die Schule, er ist nicht dumm, aber er kümmert sich überhaupt nicht um das zu Lernende. Wenn das so weiter geht, wird Ihr Kind bald zurück bleiben und dem Unterricht überhaupt nicht mehr folgen können. Bitte kümmern Sie sich darum, dass Ihr Sohn wenigstens die Hausaufgaben ordentlich macht. Es wäre schade um ihn. Wir wollen doch alle nicht, dass er sitzen bleiben muss.»
Ich hatte keine einzige Zeile mit meiner Mutter an meiner Seite zustande gebracht. Mir zitterte die Hand. Ihre Stimme war schrill. Sie befahl: «So, schreib!» Ich malte die Ziffern mit wackeliger Hand, ich versuchte, scheller zu malen, denn meine Mutter wirkte ungeduldig. Es sah sicher nicht gut aus, was ich auf das Papier kritzelte. Sie wurde böse. Dann noch die Rechnung. Wie viel ist das? Ich wusste es nicht. Nein, ich rechnete gar nicht. Ich rüstete mich, die erste Watsche abzufangen. Ich erstarrte zur sprichwörtlichen Salzsäule. Schimpfkanonaden. «Esel, Trottel. Was machst du eigentlich in der Schule!» Sie steigerte sich hinein. «Was glaubst du eigentlich, wer du bist, glaubst du wirklich, ich lass mich von dir verarschen. Ich weiß nicht, wie mir der Kopf steht vor lauter Arbeit, und dann das noch, dann soll man mit dir lernen, weil du zu faul bist, deine Hausaufgaben zu machen, weil der gnäh‘ Herr meint, in der Schule nicht aufpassen zu müssen, weil er meint, ihm könne es wurst sein, was die Leherin will und ich solle es ausbaden. Da kommst du mir aber gerade recht. Täusch dich nicht, dieses Spiel spielst du nicht mit mir!»
Sie kochte vor Wut. Ich spürte, wie sie mich am Haarschopf fasste, und dann drückte sie ruckartig meinen Kopf auf das Schreibheft. Zwei, drei Mal riss sie meinen Kopf in die Höhe und schleuderte ihn auf das Papier. Meine Nase brannte und es begann warm daraus zu rinnen. Ich schrie und heulte, ich fühlte mich wie vor meiner Hinrichtung.
Sie musste sich als gescheitert vorgekommen sein. Sie riss das Heft unter meinem Kopf weg. Sie sah, dass das Heft seiner Zerstörung entgegenging. Das Blut, die Tränen verteilten sich auf dem aufgeschlagenen Heft. Sie unternahm etwas, um das Heft zu retten. Ich nehme an, sie riss die nassen Seiten heraus. Sie wirkte resigniert.
«Du bist absolut zu nichts zu gebrauchen. Du Nichtsnutz! Du lernst nicht, du arbeitest nicht, wenn man nicht ständig hinter dir her ist. Ach leck mich doch am Arsch, mach deinen Scheiß alleine, ich geh wieder zu meiner Arbeit! Glaub nicht, dass ich mich mit deiner Faulheit, deiner Drückebergerei zufrieden gebe. Wannst blöd bleim wüst, na guat, deine Sache! Bei der Arbeit lass ich dir das nicht durchgehen!» Ich würde mich nicht wundern, wenn sie mir noch gedroht hätte, welche Arbeiten ich bis am Abend zu verrichten hätte, und wehe mir, wenn sie nicht verrichtet wären.
Immer wieder Briefe
Ich hörte stampfende Schritte Richtung Tür, sie riss sie auf, schlug sie hinter sich wieder zu. Ich geriet in Panik über die Blutspuren auf dem Tisch, auf meiner Hose, dann rannte ich in die Küche, zu einem Wassereimer, dort wusch ich mich, solange bis das Bluten ein Ende hatte. Meine Mutter ignorierte ab nun die Briefe meiner Lehrerin. Meine Schwester kam in die Bredouille. Sie bekam immer weiter Briefe in die Hand, die sie meinen Eltern bringen musste. Ich weiß nicht, was vorgefallen war, auf alle Fälle lief sich das Briefesenden tot. Irgendeinmal schrieb meine Lehrerin keine Briefe mehr. Ich war erleichtert. Meine Schwester sagte mir später einmal, sie habe gelernt, die Unterschrift unserer Mutter nachzuahmen. Wie gut das gelungen ist, ist eine andere Frage. Es kann sein, dass meine Lehrerin die Schummelei durchschaut hat, und sie hat daraus keinen Skandal machen wollen. Ich halte es für möglich, dass sie Mitleid hatte, sowohl mit meiner Schwester Rosi als auch mit mir. Es war aber nicht die letzte «Prüfung», die meine Lehrerin mit mir durchzustehen hatte.
Es war immer problematisch, die Schule pünktlich zu erreichen
Ich kam regelmäßig eine halbe bis eine Stunde zu spät in die Schule. Das kam so: Meine Schwester Rosi war dafür verantwortlich gemacht worden, dass ich rechtzeitig in die Schule kam. Meine Schwester keifte daher immer schrecklich mit mir auf dem Schulweg, dass ich zu langsam gehe. Schneller, schneller, beweg deine Beine! Mir ging das Gekreische immer mehr auf die Nerven. Ich blieb immer weiter zurück, um das Geschimpfe meiner Schwester nicht mehr zu hören. Es wird schwer gewesen sein, meinen älteren Geschwistern zu folgen. Und solange ich mich erinnern kann, ging es immer am Morgen hektisch zu an einem Schultag. Die Abwesenheit meiner Eltern als Helfer für einen raschen und pünktlichen Aufbruch, der lange Schulweg, das Wetter, es war immer problematisch, die Schule pünktlich zu erreichen. Meine Schwester ertrug es nicht, zu spät zu kommen. Sie hatte den Ärger mit den Lehrern satt, die Vorwürfe ließen sie nicht kalt. Ich war völlig unmotiviert, in die Schule zu gehen. Das musste sich spießen. Meine Lehrerin ging mit meinem regelmäßigen Zuspätkommen so um: Sie ließ mich zur Strafe in der Ecke stehen. In voller Montur, also mit allenfalls Mantel und immer mit der Schultasche auf meinen Schultern. In der Neunuhrpause durfte ich dann auf meinen Platz gehen. Die erste Schulstunde versäumte ich so regelmäßig. Ich war meiner Lehrerin überhaupt nicht böse für diese Strafe. Ich fand sie sehr milde. Sie muss mich strafen, das ist ja ihre Pflicht. Sie muss durchsetzen, dass die Kinder pünktlich in die Schule kommen. So verständnisvoll war ich gegenüber meiner Lehrerin.
Vor nicht zu langer Zeit, beim Begräbnis meines Bruders Franz, begegnete ich meinem damaligen Schulfreund Robert. Er sagte mir, ich hätte ohne ein Wort von der Lehrerin mich immer automatisch in die Ecke gestellt, sobald ich in die Klasse gekommen war. Das hatte sich bei mir wirklich zu einer automatischen Handlung entwickelt; dazu passt, dass ich es vollkommen vergessen hatte. Gerade noch flackert in mir ein Gefühl der Hemmung und Peinlichkeit auf, das Klassenzimmer zu betreten. Der Druck auf die Türklinke fiel mir schwer. Erst auf die Erinnerung durch meinen Freund Robert dämmerte mir mein freiwilliger Gang in das Winkerl. Es sollte eine Bloßstellungsaktion sein, die ihre Wirkung auf mich haben sollte. Sie kam nicht ganz so bei mir an. Sie war für mich ein geringer Preis dafür, dass ich den Schulweg nach meinen Bedürnissen gestaltete.
Wenn im Unterricht einmal die Familie, Familiensituationen in den Mittelpunkt des Gesprächs kamen, redeten fast immer dieselben Kinder mit und erzählten von schönen Erlebnissen. Ich fühlte mich dann sehr ausgeschlossen. Und ging es einmal gar nicht anders, dass auch ich über meine Erlebnisse in der Familie etwas sagen musste, dann hatten mich meine Eltern sehr lieb und bescherten mir ebenso schöne Erlebnisse, wie auch die erzählfreudigen Kinder sie erlebt hatten. Ich wusste, dass ich log. Meine Lüge beschämte mich. Pack schlägt sich, Pack lügt! Ich wollte nicht zum «Pack» gehören. Es durfte nicht öffentlich werden, dass ich ein Kind des «Pack» war. Heute würde ich sagen, ich fühlte mich von einer Reihe von Bedrohungen eingekreist. Meinen Eltern durfte nichts zu Ohren kommen, was sie provozieren könnte, sodass sie mich nicht nur verurteilen, sondern auch watschen würden. Sie durften auch nicht hören, dass ich log, damit ich dazugehörte. Die Wahrheit über meine Familie und wie ich mich darin fühlte, würde mich zum Außenseiter machen und mich abwerten, weil ich aus dem «Pack» komme. Ich wäre ein Verräter meiner Familie, wenn ich nach außen trüge, was ihrem Ansehen schadete. Ich würde mich selbst mit abwerten. In der Auseinandersetzung in der Klasse und am Schulhof war ich ein wehrloser Watschenbaum, da meine Waffen mich diskreditierten. Sie waren Schlagen und Zurückschlagen. Die Lehrer würden das nicht dulden. Die Eltern könnten benachrichtigt werden und mich verprügeln. Meine verbalen Waffen waren äußerst unterentwickelt. Ich war darin sehr unsicher. So war ich verstummt.
Wie ein Wunder
Ich mochte meine Lehrerin, ich war ihr dankbar, dass sie mich in Ruhe ließ, dass sie aufhörte meine Eltern mit Briefen zu alarmieren, dass sie aufhörte, von mir die Hausaufgaben einzufordern, dass sie aufhörte, mit Moralpredigten und Ermahnungen meine Schwester zu traktieren. Es kommt mir heute wie ein Wunder vor, wie meine erste Lehrerin sich mit mir arrangiert hatte. Sicher keine einfache Sache. Ich spreche ihr große Reife zu. Und ich hatte großes Glück mit ihr gehabt. Nur ein paar Jahre später, und ich wäre mindestens dem Schulpsychologen vorgeführt worden. Ich lernte später ein «verhaltensauffälliges», um 10 Jahre jüngeres Kind kennen, dass ab der ersten Klasse Psychopharmaka schlucken musste, weil es so vom Psychiater verordnet und dessen Einnahme von der Mutter kontrolliert worden war.
Meine Lehrerin kam bei jedem Wetter mit einem Regenschirm in die Schule. Ich redete mit meiner Lehrerin nie ein Wort, wenn sie mich nicht um etwas gefragt hatte. Ich hatte mit ihr einen gemeinsamen Schulweg von ein paar hundert Metern. Ohne Worte griff ich am Ende des Unterrichts nach ihrem Schirm und trug ihn hinter ihr her. Ich wollte ihr einfach zeigen, wie froh ich war, dass sie mich in Ruhe ließ. Wenn ich es damals auch nicht sprachlich ausdrücken konnte, fühlte ich doch, dass sie mich akzeptierte. So schicke ich ihr einen rückwirkenden Dank!
[INFO] Gekürzte Fassung eines Texts aus: «Soziale Nullen» von Sylvia Bee und Sebastian Eff.
Erschienen 2015 im Eigenverlag der GPR. 187 Seiten. Erhältlich in den Buchhandlungen: ÖGB Fachbuchhandlung, Rathausstraße 21,1010 Wien. Lhotzkys Literaturbuffet, Rotensterngasse 2, 1020 Wien, und Frick International, Schulerstraße 1–3, 1010 Wien. Sowie direkt beim Autor, E-Mail an f.flossinger@gmail.com Preis: 10 Euro zzgl. Versandkosten.