Memorial wird nicht aufgebenDichter Innenteil

© MEMORIAL Deutschland / D. Höpfner

Eine Wohnungstür im letzten Stock eines Hauses öffnet sich knarrend und es bleibt ungewiss, wie die Begegnung mit der Person hinter ihr verlaufen wird. Noch kennen wir uns nicht. Unsere Treffen während meines Aufenthalts im russischen Sankt Petersburg sind begrenzt. Nicht nur, weil ich wieder abreisen muss, sondern weil die Person dort hochbetagt ist – und schon viel erlebt hat. Wir werden nicht mehr viel Lebenszeit gemeinsam haben, aber aufgrund ihres hohen Alters wird sie die Erfahrungen ihres langen und bewegenden Lebens mit mir teilen und mir einiges mit auf den Weg geben. «Zakhodite», höre ich hinter der Tür, nachdem ich meinen Namen gesagt habe – Treten Sie ein! Ich trete ein und blicke in ein trotz der vorangeschrittenen Lebensjahre ebenmäßiges Gesicht einer Frau und spüre, dass in der sanften Stimme und den warmen Augen auch Autorität mitschwingt. Die Haare trägt sie zu einem Dutt, eine runde Brille sitzt auf ihrer Nase. An ihrer aufrechten Haltung sieht man ihr an, dass sie die Contenance beherrscht. Und nun beginnt das, was die russische Menschenrechtsorganisation Memorial, die erst vor wenigen Wochen von einem russischen Gericht zur Auflösung verurteilt wurde, jungen Menschen aus aller Welt wie mir ermöglichte: Überlebende der Stalinschen Terrors zu treffen und gemeinsam die Vergangenheit der dunklen Repressionen zu beleuchten. Seit dem Zerfall der Sowjetunion arbeitet(e) Memorial mit viel Engagement die Arbeit der Stalinschen Repressionen auf und setzt sich für Menschenrechte in ehemaligen Staaten der UdSSR ein.
Ich nehme auf dem Diwan im Wohnzimmer Platz und lausche Erinnerungen, die einander ähnlich sind, aber aufgrund der familiären Verbindungen und Erlebnisse dennoch ganz verschieden. Geboren in Petrograd (Name von Sankt Petersburg von 1914-1924) in einer adeligen Familie, aufgewachsen in Leningrad (Name von Sankt Petersburg von 1924-1991). (Und später gestorben in Sankt Petersburg.) Die Machtübernahme der Kommunist_innen, Zwang dem Komsomol beizutreten, Verrat durch Freunde. Der Vater ein angeblicher «Volksfeind», die Mutter während der Leningrader Blockade verhungert, Verbannung nach Frunse (heute Bischkek in Kirgisistan), Lagerhaft, die Wegnahme des Kindes, körperlich anstrengende Arbeit im Wald bei eisigen Temperaturen. Hier erzähle ich Erinnerungen an die Lebens- und Leidensgeschichte von Tamara Vladimirovna Petkevitsch Nur Teile davon. Nach der Rückkehr nach Leningrad nach Stalins Tod 1953 wird sie eine bekannte Schauspielerin.
Ich versinke immer mehr und mehr in ihrem Diwan. Sie ist sanft und lobt mich, dass ich die Satzstellung im Russischen gut beherrsche. (Ich lerne damals erst seit 2 Jahren Russisch.) Dafür wird sie mir nach ihrem Tod auch in Erinnerung bleiben – für ihre Fähigkeit, das Gute im Menschen zu sehen. Trotzdem. Das ist für mein 22-jähriges Ich zu viel. Tränen stehen mir in den Augen. Nun tröstet sie mich! Ich lerne, dass das Konzept von sochuvstviye, Mitgefühl, im Russischen sehr wichtig ist. Als Sünde wird ravnodushiye gesehen, Gleichgültigkeit. Der Seele ist es gleich, heißt es wortwörtlich. Das ist es mir absolut nicht. Tamara Vladimirovna und ich essen nach dem aufwühlenden Gespräch Zitronenkuchen. Nun befragt sie mich. Ob ich Schwestern habe, was ich studiere. Das ist gut, denn so kann im Gespräch ein Gleichgewicht entstehen. Sie ist nicht mehr die Befragte. Flink huscht sie in ein anderes Zimmer und kommt mit den beiden Bänden ihrer Memoiren zurück. Sie schreibt eine Widmung auf die erste Seite, die darf ich jedoch erst zuhause lesen.

Menschenrechtsarbeit muss lebensbejahend gesehen werden

Ein paar Wochen nach dem Treffen mit ihr sitze ich bei einer Gedenkveranstaltung im damaligen Wissenschafts- und Forschungszentrum Memorial. (Auch das Zentrum wurde in ihrer Arbeit behindert und hat den Namen ihrer Organisation in Fond Ioffe nach dem Gründer von Memorial in Sankt Petersburg benannt und konzentriert sich nunmehr auf publizistische Tätigkeiten.) Kolleginnen des tschetschenischen Memorial sind aus Grosny gekommen. Sie erzählen von Natalya Estemirova, einer im Jahr zuvor ermordeten Menschenrechtlerin und Mitarbeiterin von Memorial. Während der Tschetschenienkriege wäre sie oft am Markt in Grosny gewesen und hätte den Frauen dort geholfen. Mit berührter Stimme erzählt eine Kollegin, dass diese Frauen, nun von Natalias Hilfsbereitschaft berichten. Sie findet das «zhizneutverzhdayushchiy». Das Wort ist mir neu, doch ich verstehe die zwei Teile: zhizn‘ potverzhdat‘ – Leben und bestätigen. Dann verstehe ich plötzlich das neue Wort: lebensbejahend! Nicht nur den Zusammenhang, sondern auch der Moment prägen sich ein. Menschenrechtsarbeit muss lebensbejahend gesehen werden, nehme ich für meine spätere Arbeit mit, denn ich werde ein paar Jahre später noch einen Abschluss in Menschenrechte machen und im Donbass arbeiten. Die MitarbeiterInnen von Memorial, liebevoll Memorialzy genannt, wissen das. Sie sind davon überzeugt, dass der Menschen zählt.

Das Gerichtsurteil ist schlimm. Memorial soll ein sogenannter «ausländischer Agent» sein, sagt die russische Justiz. Das «Gesetz über ausländische Agenten» betrifft, betraf und zerstörte seit 2011 bereits auch andere sozial engagierte Organisationen. Diese böswillige Bezeichnung ist kein Einzelfall in autoritären Regimen, «denn wer Unterstützung aus dem Ausland bekommt, kann nur ein/e Agent/in sein». Bedrückend ist nicht nur, dass sich eine Organisation als solche deklarieren muss, die die Schicksale von Menschen aufarbeitet, die in der Sowjetunion willkürlich als «Agenten» verurteilt und ermordet wurden, sondern auch die Argumentation. Immer wieder ist derselbe Grund, der angegeben wird, die etwas andere Version der Vergangenheit durch die russische Regierung – nämlich eine «glorreiche». Der Sieg Stalins über Nazi-Deutschland wird damit gemeint. Und die Terrorjahre, das Systems des Gulags, die Zwangsarbeit, der Mord an Millionen von Menschen, der ukrainische Holodomor (die Hungersnot in den 1930ern) und vieles mehr? Nein, das ist wahrlich nicht glorreich. Das zu erkennen und anzuerkennen wäre Aufgabe der russischen Regierung. Doch sich auf das zu fokussieren, was gut lief, ist einfacher in der Rhetorik. Memorial schafft, was die russische Regierung nicht schafft. Generell bräuchte es eine kritische Revision der ganzen Zeit der Sowjetunion. Hinter der Potemkinschen Fassade eines gescheiterten Systems lief so einiges falsch. Memorial legt den Finger in eine Wunde und wird dafür bestraft.
10 Jahre nach meinem ersten Aufenthalt sind alle Überlebenden, die ich damals kennengelernt habe, verstorben. Traurig ziehe ich in Sankt Petersburg von einem Friedhof zum nächsten und lerne, wie man auf Russisch gedenkt – mit pominki, von «sich erinnern». Bei Tamara Vladimirovnas Grab lege ich eine Rose nieder. Es werden Pralinen gegessen, eine Flasche geleert. Gemeinsam gedenken wir, die Mitarbeiter_innen von Memorial und ich, derer, die die Kraft aufbrachten, sich für uns an Schreckliches zu erinnern. Es liegt mir daran, den Ruf von Memorial zu verteidigen. Sie werden nicht aufgeben, davon bin ich überzeugt.

 

INFO:
Memorial, Internationale Gesellschaft für historische Aufklärung, Menschenrechte und soziale Fürsorge ist eine unabhängige Menschenrechtsorganisation mit Hauptsitz in Moskau, die 1989 gegründet wurde. Im November 2021 beantragte die russische Staatsanwaltschaft die Auflösung der unabhängigen NGO, die Ende Dezember vom obersten Gerichtshof Russlands vollzogen wurde. Außerhalb Russlands bestehen die Einrichtungen von Memorial weiterhin.
www.memo.ru/en-us/

Theresa Bender-Säbelkampf studierte Übersetzen und Dolmetschen in Wien, Russland und Italien. Nach zwei Praktika bei Memorial in Sankt Petersburg hat sie 2017 noch ein Studium der Menschenrechte mit einer Arbeit über häusliche Gewalt durch den Konflikt in der Ostukraine absolviert. Für ihr erstes kritisches Gedicht hat sie 2011 den Augustin angeschrieben und später auch über Lampedusa berichtet. Sie interviewte Überlebende von totalitären Regimen, KrimtatarInnen und IDPs (Internally displaced people) aus der Ostukraine. Die gebürtige Kärntnerin engagiert sich für Gewaltprävention in Wien und in der Ukraine. 

Blog: www.saebelkampfova.wordpress.com

Theresa Bender-Säbelkampf: Russische Dissoziationen; die Integration der Stalinistischen Vergangenheit in den öffentlichen Diskurs heute – zwischen Wunsch und Wirklichkeit.
Diplomarbeit, Wien 2014 (auch online abrufbar)