Menschen, die für Schlote brennentun & lassen

Eine Internet-Initiative sammelt die Verluste an Industriekultur

Markus Mráz ist Polizist. Seine detektivische Kompetenz bringt er aber eher nach Dienstschluss zum Tanzen. Als ausgebildeter Hydrogeograf «seziert» er Leichen: die Leichen der Industriearchitektur in und rund um Wien. Robert Sommer über eine Obsession, die uns auch darauf aufmerksam macht, wie einseitig in Wien das denkmalschützerische Interesse auf die Pracht- und Macht-Architektur der «herzeigbaren» Stadtteile fokussiert ist.

Foto: schlot.at

Markus Mráz ist, gemeinsam mit den IT-Beschäftigten Christoph Schwaiger und Werner Hackinsholz sowie der Künstlerin Constanze-Catharina Czutta, Dokumentarist der Entindustrialisierung einer Stadt, in der vor hundert Jahren noch ca. fünfhundert Schlote in die (von ihnen kontaminierte) Atmosphäre ragten.

Mráz und Schwaiger begannen im Jahre 2007, die Website schlot.at einzurichten, nachdem sie, etwa in den Reisen durch osteuropäische Landschaften, ihre Begeisterung für Industrieanlagen entdeckten. Die beiden Gründer legen Wert auf die Feststellung, dass sie mit ihrer dokumentaristischen Arbeit nicht «die gute alte Zeit» verklären wollen. Was aus den Kaminen rauskam, verpestete die Luft und verkürzte das Leben der in ihrer Nähe arbeitenden oder wohnenden Menschen, und in den Produktionshallen, die mit den Schloten verbunden waren, herrschte oft sklavenförmige Arbeit in Dunkelheit, Hitze oder Kälte. Oft aber entdeckt schlot.at die humanere Kehrseite der kapitalistischen, also profitorientierten Industrialisierung, etwa in Form eine Holzstöcklpflaster-Bodens in einer der Bundesbahnhallen auf dem Floridsdorfer Gelände, in dem heute das Spital Nord entsteht. Das sei ein dem Menschen angepasster Boden, auf dem man als Arbeiter kaum Kreuzweh kriegt – zum Unterschied von den Betonböden, die allgemein verwendet wurden.

Politische Interventionen, um außergewöhnliche Industriearchitektur zu retten – das sei nicht die Sache von schlot.at, meint Mráz im Augustin-Gespräch. Anders als es Denkmalschützer tun müssen (oder tun sollten), fordere schlot.at nichts, sondern sammle und forsche. Einige Zufallsfunde – alte Fotos aus digitalen und lebendigen Archiven – hat Markus Mráz in die Augustin-Redaktion mitgenommen. Er vergleicht die abgebildeten Industrieanlagen mit deren jetzigem Zustand, und es ist fast immer enttäuschend, was übrig blieb vom Erbe der großen Industrialisierungswelle des 19. Jahrhunderts.

Der Fokus der Dokumentationsarbeit von schlot.at liegt auf industriegeschichtlichen Dokumenten aus dem niederösterreichischen Viertel unterm Wienerwald, auch bekannt als Industrieviertel. Die Website dreht sich hauptsächlich um Industrieschornsteine in den Bezirken Wien Umgebung, Bruck an der Leitha, Mödling, Baden, Wiener Neustadt, Wiener Neustadt Land und Neunkirchen. Zusätzlich wird auf die umfassende Dokumentation von Standorten in Wien und die Präsentation von österreich- und weltweit aufgefundenen Objekten Wert gelegt. «Egal, ob abgerissen oder bestehend, es ist uns ein Anliegen, ihre Lage, Konstruktion, Nachnutzung, aber auch ihren Abriss zu dokumentieren.»

Er brennt für die Schlote. Eine Obsession, im positiven Sinn, die keine Grenzen kennt. Wenn ein Rätsel gelöst ist, tut sich das nächste auf. Es kommt zum Beispiel in Form einer Schwarzweiß-Fotopostkarte per Zufall ins schlot.at-Archiv geflogen. Das Foto zeigt ein Öl-Eruption – aber wo bitte? Markus Mráz dreht die Postkarte um. Auf der Rückseite sieht er eine Beschriftung, die unsereins als arabische Schrift auslegen würde. Mráz ahnt jedoch sofort, dass es ein osmanischer Text sein könnte. Er scannt die Postkarte und mailt sie an das Institut für Orientalistik an der Uni Wien. Sie leistet die Übersetzungsarbeit gerne. Es kommt heraus, dass die Ölquelle im irakischen Kirkuk steht. Nun beginnt erst die detektivische Arbeit von Mráz. Resultat ist, dass der auf der Postkarte gezeigte Bohrturm mit dem Bohrturm im Ölfeld Baba Gurgur identisch ist, bis heute eine der bedeutendsten Quellen des Irak. 1927 war man dort fündig geworden; die unkontrollierte Öleruption, die auf dem Foto zu sehen ist, muss die Umgebung stark kontaminiert haben. Nachforschungen ergaben, dass das Erdöl damals, unmittelbar nach der Bohrung, zehn Tage lang herausgeschleudert wurde.

Die Leidenschaft des Geologen Mráz teilt Christoph Schwaiger seit seiner Reise nach Manchester im Jahr 2009. Die vielfältigen Spuren von über 200 Jahren industrieller Revolutionen haben bleibende Eindrücke hinterlassen. Für die Zukunft hat Schwaiger die Veröffentlichung zahlreicher Snapshots aus dem eigenen – endlos erscheinenden – Fotoarchiv geplant. Werner Hackinsholz schwärmt vom Projekt, weil es die Gelegenheit für einen interdisziplinären Arbeitsansatz bietet: Archiv- und Antiquariatswesen, Fotografie, Kartografie, Ökonomie, Soziologie, Architektur, Boden- und Materialkunde, Zeit- und Technik-Geschichte, Schriftkunde und viele andere Bereiche seien «Geburtshelfer» für die Artikel auf schlot.at. Constanze-Catharina Czutta, die Vierte im Bunde, ist Kunstgeschichtlerin und unter dem Namen Lukrezia als Malerin aktiv (www.lukrezia.org). Ihre «Eintrittskarte» in die Fabriks-Dokumentarist_innenrunde war die Studie über die Kriterien der Standortwahl des Wiener Schlachthofs.

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