Sizilien gilt als eine der ärmsten Regionen der EU. Der Fotojournalist Giovanni Lo Curto hat die letzten paar Jahre damit verbracht, Obdachlosigkeit in seiner Heimatstadt zu dokumentieren. Ein Auszug aus seiner Reportage Palermo Amara (Bitteres Palermo).
TEXT & FOTOS: Giovanni Lo Curto
Dolce far niente, blauer Himmel und weiße Strände – daran denken viele, wenn von Sizilien die Rede ist. Realität ist aber auch: Rund 40 Prozent der Bevölkerung sind von extremer Armut betroffen. Seit den 1990er-Jahren dauert die wirtschaftliche und soziale Krise in Sizilien bereits an. Nachdem die Regierung von Georgia Meloni vor einem Jahr den «Reddito», das Bürgergeld, abschaffte, ist die Situation noch schlimmer geworden. Zwar gab es Maßnahmen, um die Lücke zu füllen, doch erreichen sie längst nicht alle Menschen, die es nötig haben.
Besonders sichtbar ist die Armut in Palermo, meiner Heimatstadt. Seit 2018 dokumentiere ich deren Verfall. Dabei habe ich mich bisher vor allem mit Obdachlosigkeit befasst, der extremsten Ausprägung von Armut. Im Zentrum meiner Reportage stehen Menschen, die trotz widriger Umstände versuchen, ein möglichst erfülltes Leben zu leben, und die selbstbewusst ihr Recht auf Würde einfordern.
Tanam, 60 Jahre alt, (Bild oben links) im Zentrum von Palermo porträtiert. Er stammt aus Sri Lanka und lebt seit 30 Jahren in Italien. Nach seiner Scheidung und dem Verlust seines Jobs im Jahr 2021 wurde er obdachlos. Tanam ist immer tadellos gekleidet, in Anzügen und mit bunten Krawatten. «Im Moment habe ich beschlossen, auf der Straße zu leben und kein Bett in der Notunterkunft zu suchen», sagt er. «Ich ziehe es so vor, eine Art persönliche Freiheit.»
Mimmo, 67, auf seinem Bett in Casa D’Aldo, einem Notunterkunftsschlafsaal. Kürzlich hat er ein Bett im Polo San Francesco zugesagt bekommen, das ein Unterstützungsprogramm und Workshops anbietet, bis eine geeignete Unterkunft gefunden wird. Vor Kurzem nahm er an einem Workshop teil, um soziale Stadtrundgänge zu führen. Vor ihm liegt sein Heft, in das er Gedichte schreibt, die er mit großem Können vorträgt.
Angela und Anna umarmen sich für ein Porträt. Angela, 50, aus Lampedusa, hat ein Leben voller Entbehrungen, aber auch Resilienz hinter sich. Im Laufe der Jahre arbeitete sie als Haushälterin, in einer Wäscherei und im Straßenbau. Angela war gezwungen, ihr Zuhause zu verkaufen und nach Catania umzuziehen. Seit drei Jahren lebt sie in verschiedenen Unterkünften in Palermo. Sie ist Mutter von zwei Kindern. Mit leiser Entschlossenheit sagt sie: «Wenn sie mich finden wollen, werden sie es tun.»
Anna, eine ehemalige Reiseleiterin, lebt schon seit langer Zeit auf der Straße. Sie kämpft mit Alkohol- und Drogenproblemen und erlitt einen Schlaganfall, der ihre Hand dauerhaft beeinträchtigt hat. 2019 beantragte sie einen Platz in einer Unterkunft, nach Jahren des Wartens erhielt sie schließlich im Oktober 2022 einen.
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